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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Wettläufer trabten zurück zur Wiesenmitte, unterhielten sich, richteten was an ihren Peitschen. Je länger sie wartete, desto geringer die Chance. Dann brach jemand auf dem offenen Wegstück aus dem Zug aus, im Rücken der Wettläufer, die erst am einsetzenden Gejohle merkten, was sich tat, und sofort lossprinteten. Und ohne einen weiteren Gedanken lief auch Kerstin los.
    Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, als sie den Schutz der Bäume verließ. Das Gras auf der Wiese war tiefer, der Boden unebener als erwartet. Sie kam ins Straucheln und fasste neben sich ins Gras, wollte schon abbrechen, aber die ersten Zuschauer hatten sie gesehen und begannen zu pfeifen. Wie ein kurzer Stromschlag traf sie der Schock, plötzlich Hunderten von Blicken ausgesetzt zu sein. Eine Sekunde nachdem sie ihm zuwidergehandelt hatte, meldete sich der vertraute Impuls, der sie stets Röcke tragen ließ, die eine Handbreit länger waren als Anitas. Vielleicht war er angeboren, vielleicht hatten Erziehung und Gewohnheit ihn geformt zu dem, was nun das Rückgrat ihres Charakters bildete: den weichen, von aller Arbeit an sich selbst unberührten Kern – ihr eigentliches Ich.
    Sie nahm die Arme hoch und rannte.
    Ein trockenes Rascheln begleitete die Bewegung ihrer Füße im kniehohen Gras. Insekten summten über der Wiese, rechts öffnete sich ein Wellental aus waldigen Hügeln. Sie kam sich albern vor und gleichzeitig angespornt, gepackt in ihrer Sportlerehre. Das Gefälle der Wiese trieb sie automatisch nach rechts auf die anvisierte Route. Ihre Schritte fanden einen gewissen Rhythmus. Aus dem linken Augenwinkel erkannte sie, dass die beiden Wettläufer den späten Ausreißer gemeinsam gestellthatten und zurück zum Zug geleiteten. Für einen Moment war sie ganz alleine unterwegs und hatte das Gefühl, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, je länger sie lief. Als hätte sie in der Flucht den Impuls zur Flucht abgehängt und liefe einfach so weiter. Dann wurde es immer lauter. Sie hatte zwanzig, dreißig Meter zurückgelegt. »Du schaffst es!«, hörte sie eine Frauenstimme rufen und glaubte, dass es Anitas war. Vierzig Meter. Aus dem ersten plötzlichen Schock wurde Euphorie, das Gefühl, sich selbst entkommen zu sein, samt allen Zweifeln und Bedenken. Sie tat so etwas nicht, und jetzt tat sie es doch, und es fühlte sich großartig an. Wie nackt zu sein ohne die geringste Scham. Wie in ein warmes Meer zu rennen.
    Als es noch einmal lauter wurde, wusste sie, dass die Verfolgung begonnen hatte. Im Sprung über eine Vertiefung im Boden wandte sie kurz den Kopf und sah einen der beiden Wettläufer quer über die Wiese schießen, im spitzen Winkel zu ihrer Bahn und vom Gefälle der Wiese begünstigt. Die Unebenheiten im Boden ließen keine optimale Laufhaltung zu, sie musste immer wieder rudern, um nicht die Balance zu verlieren. Auf dem Weg wurde jetzt rhythmisch geklatscht, die Leute blieben stehen und schauten. Und von links oben kam die weiße Gestalt immer näher. Sie spürte den ersten Anflug von Atemlosigkeit, eine Enge in der Kehle. Noch fünfzig Meter bis zum Wegrand, vielleicht weniger. Wenn sie sich noch weiter nach rechts treiben ließ, würde sie direkt in die Tannenschonung laufen. Sie begann sich zu fragen, ob es peinlich war, erwischt zu werden, so als Ortsfremde auf diesem traditionsreichen Fest. Hoffentlich verstand der Typ hinter ihr Spaß. Hoffentlich war es nicht der Kürbis. Er befand sich jetzt fast auf gleicher Höhe, sie liefen die Seiten eines spitzen Winkels entlang und näherten sich dem Punkt des Zusammentreffens.
    Ihre Mutter würde sagen: Geschieht dir recht. Da war etwas Unausweichliches in dem Näherkommen seiner Schritte, etwas, das sie hätte wissen können und sogar gewusst hatte, nur um es zu ignorieren im Moment des Loslaufens. Einunvernünftiger Akt der Freiheit, und alles, worauf sie jetzt noch hoffen konnte, war das Ausbleiben von Reue, sobald der Wettläufer sie eingeholt haben würde. Man entkommt sich eben doch nicht. Schweiß lief ihr über die Schläfen. »Gib auf«, hörte sie seine gepresste Stimme zischen. Fünf Meter waren noch zwischen ihnen, das Rennen war entschieden, sie ließ die angewinkelten Arme ein Stück sinken …
    Und dann, als er gerade die Hand nach ihrer Schulter ausstreckte, blieb sie abrupt stehen, er lief vorbei, und sie startete hinter seinem Rücken bergauf, im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Laufweg. Donnernder Applaus begleitete das Manöver. Auch wenn man nicht gewinnen

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