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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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kann, muss man so lange wie möglich kämpfen. Kerstin lief der Schweiß ins Ohr, und sie hörte den Jubel nur noch als Rauschen. Spürte die Anstrengung des Bergauflaufens in den Schenkeln. Vernahm in ihrem Rücken ein Stöhnen. Mit letzter schicksalhafter Ergebenheit lief sie dem Ende entgegen. Sah sich dem Ziel näher kommen, aber ihr Verfolger hatte sofort kehrtgemacht und holte rasch auf. Es war ihr egal. Im weiten Rund standen die Wanderer auf dem Weg und klatschten. Lauf, Kerstin, lauf! Dann fühlte sie eine große Hand auf der Schulter, einen festen, aber nicht groben Griff, unter dessen Druck sie die Schritte verlangsamte. Keine zehn Meter vor dem Ziel kam sie zum Stehen und drehte sich um.
    Er hatte denselben begeisterten Gesichtsausdruck wie vorhin auf dem Frühstücksplatz. Sonnenlicht spiegelte sich auf seinem schweißüberströmten Gesicht. Sie wartete auf das Einsetzen von Beschämung und den Wunsch, im Boden zu versinken, aber der kam nicht. So war Sport: Oberhalb von hundertfünfzig Herzschlägen pro Minute weht dein Stolz wie eine Fahne im Wind, flattert durch Sieg und Niederlage und verkündet allen, dass du dein Bestes gegeben hast. Einen Moment lang japsten sie beide nach Luft.
    »Starker Lauf …«, brachte er schließlich hervor, »… aber nicht … mit mir.« Er hielt sie am Oberarm jetzt. Halb Arrest, halb Gratulation.
    Kerstin hörte Rufe hinter sich auf dem Weg, ohne sie zu verstehen. Das Herz klopfte ihr in der Kehle. Er hatte dunkle Augen und ein rundes, aber dennoch markantes Gesicht. Starke Kieferknochen. Strähnen schwarzen Haares schauten unter dem Rand seiner Mütze hervor. Sein Brustkasten hob und senkte sich. Er hatte die Brust eines Turners, sie sah die Linie zwischen den beiden Muskeln, da wo ihm das weiße Hemd auf der Haut klebte. Für einen schwitzenden Mann roch er ausgesprochen gut. Irgendwie erdig.
    Sie sah zurück auf die Stelle, von wo sie losgelaufen war, auf die unscheinbare Reihe von Bäumen am anderen Ende der Wiese. Ein endloser Strom von Wanderern floss vom Frühstücksplatz in ihre Richtung.
    »Werd ich jetzt … ausgepeitscht?«, keuchte sie.
    »Nur wenn du noch mal lossprintest.« Sein Atem beruhigte sich bereits wieder. »Mann, als ob Wettläufer sein nicht schon anstrengend genug wäre.«
    »Wollte mal testen … wie austrainiert ihr seid. Puh.«
    »Und?«
    »Ganz ordentlich. Aber bestimmt tierisch hohe Laktatwerte. Pass auf, dass du nicht über die anaerobe Schwelle kommst.«
    »Die was?«
    »Ich mach mir Sorgen um deinen Milchsäuregehalt. Im Blut.« Sie zeigte mit dem Finger auf seine Brust, als wäre Blut ein Organ mit festem Wohnsitz. Hinter ihr war der Applaus erstorben, aber die geballte Aufmerksamkeit hing weiter über der Wiese wie eine Wolke aus hundert Augen. Und ihr gefiel das, so in der euphorisierten Erschöpfung nach dem Lauf. Gefiel ihr genauso wie der verwirrte Gesichtsausdruck des Wettläufers.
    »Hast du wenigstens mal deine individuelle Schwelle gemessen?«, fragte sie.
    Er sagte nichts. Er hatte gewonnen und sie verloren, aber so wie sie sich gegenüberstanden, war davon nichts zu spüren. Die Schnur seiner Peitsche hatte sich im Laufen gelöst, und er nahm die Hand von ihrem Arm und zog sie wieder fest. Entweder warer schwer von Begriff oder leicht zu beeindrucken, aber sie sah keinen Grund, daran Anstoß zu nehmen.
    »Muss ich jetzt wieder bis ganz da hinten zurück?«, fragte sie und schaffte es damit endlich durch den Mantel seiner Sprachlosigkeit.
    »Eigentlich ja, aber ich werd eine Ausnahme machen. Du bist hiermit befugt, den kürzesten Weg zurück zum Grenzverlauf zu nehmen. Da hinter dir, würd ich sagen. Allerdings muss ich vorher noch deine Personalien aufnehmen.« Sie standen so nahe beieinander, dass sie die Wärme seines Körpers durch das weiße Hemd rieseln spürte – obwohl es auch die Sonne sein konnte. Außerdem stellte sie fest, dass sie beide gleich groß waren, vielleicht überragte sie ihn sogar um einen Zentimeter.
    Die Stimmen hinter ihr wurden weniger und deshalb besser verstehbar. »Was gibt’n das jetzt?«, »Riecht nach Amtsmissbrauch«, »Wettläufer oder Wegläufer?«, »Ausziehen!« Sie klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich zum Gehen.
    »Kerstin. Reicht das als Personalie?«
    »Fürs Erste.« Er nickte. Offenbar fiel ihm keine witzigere Antwort ein.
    Dann ging sie, und als sie sich nach wenigen Schritten noch einmal umdrehte, stand er unverändert und blickte ihr nach. Sein kompakter Schatten fiel

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