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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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hinter ihm auf die Wiese.
    »Nimm genug Magnesium zu dir«, rief sie ihm zu, und als er wiederum nur nickte, machte sie eine schnelle Bewegung, so als würde sie erneut lossprinten, links an ihm vorbei auf die Tannenschonung zu. Er zuckte ebenfalls, und sie hob die Arme und sagte:
    »Reingefallen.«
    »Wir sehen uns«, sagte er und trabte zurück zu seinem Kollegen.

    * * *

    Er fährt den Rehsteig hinauf und den Kaltenbach hinab, über den Marktplatz und die Rheinstraße entlang Richtung Stadtausgang. Acht Minuten nach sechs zeigt die Uhr im Auto. In seiner Jacketttasche vorne links steckt der Einkaufszettel, wie ein Einstecktuch. Schätzungsweise zwanzig Minuten wird er brauchen für seine Besorgungen, wahrscheinlich länger angesichts des einsetzenden Feierabendverkehrs und der Tatsache, dass sich heute halb Bergenstadt eindeckt mit Proviant und Vorräten für die Grenzgangstage. Überall sind Leute unterwegs mit vorfreudigen Gesichtern. Die Straßen geschmückt und aufgehübscht. Kein Laternenpfahl mehr frei von Grünzeug. Hier und da stehen Kleinlaster am Straßenrand, und Männer mit freiem Oberkörper wuchten die letzten Girlanden und Äste von der Ladefläche, nach Bergenstädter Art: Zwei fassen an, und zwei stehen mit Bierflaschen in der Hand daneben. Die Rheinstraße ist bereits Einbahnstraße zwischen Marktplatz und Rathaus. Weidmann lässt die Scheibe herunter und legt einen Arm ins offene Fenster, leitet mit der Hand heiße ozonhaltige Luft ins Wageninnere.
    In den Lahnwiesen übt der Spielmannszug.
    Wie immer nach einer Auseinandersetzung mit Kerstin fühlt er sich wohl im Auto. Erfüllt von der Bereitschaft, das entscheidende Versäumnis bei sich selbst zu suchen, und gerade deshalb im Einklang mit sich. Kerstin würde darin einen Hang zur Selbstzufriedenheit sehen, aber für ihn ist es ein Fortschritt gegenüber dem jahrelangen Hadern mit sich selbst, das er schon so oft überwunden geglaubt hat, nur um es irgendwann in einer neuen Erscheinungsform wiederzufinden: in Reizbarkeit, Überheblichkeit, Selbstverleugnung oder Eitelkeit. Wie ein Virus, das je nach Situation und Laune die unterschiedlichsten Symptome hervorrufen kann. Erst seit diesem Sommer hat er das Gefühl, es habe die Serie seiner Mutationen schließlich beendet und sich verflüchtigt. Möglich, dass gerade dieses Gefühl nur ein neues Symptom darstellt, aber dann wäre es zum ersten Mal ein angenehmes, und daran glaubt er nicht. Nein, ihm ist ein echtes Kunststück gelungen: Er hat gegenüber seinereigenen Frustration den längeren Atem behalten. Hat sie sozusagen müde gelaufen, sie, der Igel, und er, der Hase, der nach zwei Mal hin und her die Situation verstanden und die Konsequenzen gezogen hat: nicht hin und her laufen, sondern weiter . Vor zwei Jahren war das, als Kerstin nach eigenem Bekunden im Begriff stand, ihr Ja-Wort zu überdenken. Das einfachste Prinzip der Welt, man muss nur drauf kommen, und dann seine Frau überzeugen, dass man es wirklich verstanden hat.
    Weidmann setzt den Blinker und sieht schon in der Anfahrt auf den Eins-A-Markt den Betrieb am Eingang. Es sind auch nur noch ganz hinten an der Polizeistation Parkplätze frei. Kaum zu glauben, wie viele Leute mit Bierkisten aus dem Supermarkt kommen, als wäre während des Grenzgangs ausgerechnet Bier ein knappes Gut und außerhalb des eigenen Hauses nicht zu bekommen. Er findet eine Parklücke, rollt hinein und bleibt einen Moment lang angeschnallt sitzen, mit beiden Händen am Lenkrad. Es ist merkwürdig, wie es ihm einfach nicht gelingt, diese neue Gelassenheit in eheliche Harmonie zu verwandeln. Im Rückspiegel beobachtet er das Kommen und Gehen im Eingangsbereich des Supermarktes, das Treiben auf dem Parkplatz, und hört das Geräusch von Einkaufswagen auf rauem Asphalt. Nachmittags hat er im Altenheim am Bett seiner Tante gesessen, ihr aus dem Boten vorgelesen und die Zeitung beiseitegelegt, wenn Anni weggedämmert ist. Hat aus dem Fenster im achten Stock auf den Ort geschaut und sich gewundert, dass Liebe so ein autistisches Gefühl sein kann. Beinahe unaussprechlich.
    Er müsste sich beeilen, aber er tut es nicht. Kerstin steht jetzt in der Küche und weiß längst, dass es Unsinn war, ihn um diese Zeit noch loszuschicken. Wenn er nach Hause kommt, wird ihr Ärger schon zur Hälfte ihr selbst gelten. Man müsste einmal innehalten, denkt er, gar nichts tun und gemeinsam dem eigenen Leben zuschauen, als wäre es ein Film über Eingeborenenrituale in

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