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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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der Bürgermeister. Die Straße war auch schon gesperrt, überall gingen Leute, wie beim Stadtfest, auch eine Kapelle marschierte da lang, und für einen Moment fühlte er das Trommeln in der Kehle. Mit Nobs hatte er vereinbart: Am Brunnen, aber zum Brunnen zu kommen war nicht so einfach. Leute standen auf den Bänken und wedelten mit den Armen und waren höchstwahrscheinlich besoffen. Einer schrie so laut, dass man ihn kaum verstand: »Der Grenzgang 1999, er lebe …« Und alle anderen schrieen: »Hoch!« Drei Mal. Er musste schieben, um voranzukommen, weil immer die mit dem dicksten Hintern da standen, wo am wenigsten Platz war. Nobs konnte er noch nicht entdecken, aber kurz vor dem Brunnen hielt Tante Schuhmann aus der Bäckerei ihn am Arm fest, als er am Tisch vorbeiging, und fragte:
    »Du bist doch wohl nicht ganz alleine hier?« Sie hatte einen Hut auf mit lauter Abzeichen dran.
    »Fast«, sagte er. »Die anderen sind zu lahm.«
    Neben ihr saß Heinrich, der ihm mal die Backstube gezeigt hatte und der Mohr gewesen war im selben Jahr wie sein Vater Wettläufer. Auch davon gab’s ein Foto im Wohnzimmer, auf dem aber alle anders aussahen. Altmodisch halt. Heinrich hatte ein Riesengesicht und nickte allen Leuten zu, bis Tante Schuhmann ihn in die Seite stieß und sagte:
    »Wir haben bestimmt was für den jungen Mann hier.«
    Heinrichs großer Kopf nickte einfach weiter. Sie hatten Bons. Eine ganze Schlange kam aus seiner Hemdtasche und baumelte in der Luft, und zwei Stück riss er ab und sagte:
    »Grenzgangsgeld. Für einen Bon gibt’s eine Fanta.« Auf seinem Hut waren noch mehr Abzeichen. Sein Hut war auch größer.
    »Ich trink Cola«, sagte er.
    »Oder Cola. Hauptsache kein Bier, alles klar? Vom Bier keinen Schluck.«
    »Kapito«, sagte er. Dann ging er weiter.
    Nobs saß schon auf den Stufen. Um den Brunnen herum waren Theken aufgebaut, und dahinter stapelten sich Getränkekisten, und ein Kasten brummte, aus dem Strom kam. Die Lampions brannten noch nicht.
    »Hi«, sagte er.
    »Okay.« Nobs stand auf. »Das hier ist unser Bereich.«
    Sie waren diejenigen, die aufpassen mussten, dass sich niemand was aus den Getränkekisten nahm oder die Stecker aus dem Stromkasten zog oder in den Brunnen pinkelte. An Grenzgang passierten Sachen, die sonst nicht passierten, und es war nicht leicht, den ganzen Brunnen zu überwachen, weil er Stufen hatte und man nicht von einer Seite zur anderen gucken konnte. Einer von den Verkäufern machte mit und stellte zwei leere Getränkekisten an den Baum, so dass sie draufklettern konnten. Sie wechselten sich ab: Einer hielt auf den Kisten Wache, und der andere ging Streife. Einmal ging Nobs Cola holen. Danach wechselten sie sich wieder ab.
    Sie hatten noch gar nicht lange gespielt, als er Linda sah. Er drehte seine Runde, und sie stand da neben der Theke, hinterdem Brunnen, und bei der nächsten Runde stand sie schon fast auf der ersten Stufe, und bei der nächsten stand sie ihm im Weg.
    »Was macht ihr?«, fragte sie.
    Sie hatte einen Haarreif im Haar, so dass er ihre Ohren sah. Und eine Kette mit Perlen wie aus dem Kaugummiautomaten. Ziemlich bunt.
    »Nichts«, sagte Nobs hinter ihm.
    Sie gingen alle in dieselbe Klasse, aber das hieß nicht, dass sie Freunde waren oder so.
    »Kann ich mitmachen?«
    »Wir …«
    »Nein«, sagte Nobs. »Wir schaffen das alleine.«
    Sie zog an ihrer Kette, und dann nahm sie einfach eine von den Perlen und knabberte sie ab. Die Unterlippe musste sie nach vorne schieben, damit kein Stück runterfiel.
    Irgendwann gingen die Lampions an.
    Er sah nicht auf die Uhr, weil er Angst hatte, dass die Zeiger dann schneller liefen. Manchmal sah er seine Mutter, da wo die von der Rheinstraße standen, und immer wieder stand irgendwo einer auf und schrie: Der Grenzgang 1999, er lebe … Oder: Die Männergesellschaft Rheinstraße, sie lebe … Und alle schrieen: Hoch! Hoch! Hoch! Einmal kamen zwei, um sich hinter dem Stromkasten zu küssen, und Nobs verdrehte die Augen. Die merkten nicht mal, dass sie beim Küssen ihr Bier verschütteten.
    Dann holte er zwei Würstchen, und sie setzten sich vorne auf die Stufen, wo man den Marktplatz runtergucken konnte, wo alles voll war mit Leuten und unten wieder eine Kapelle spielte. Es war noch nicht dunkel, aber auch nicht mehr hell, und als er nicht aufpasste, sah er die Uhr an der Bushaltestelle. Neun Uhr war’s.
    »Weißt du, was stagnieren heißt?«, fragte er.
    »Wenn man beim Baum die Rinde abmacht.«
    »Du rätst bloß.

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