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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Es heißt stehenbleiben.«
    »Und du glaubst, man kann die Rinde abmachen, ohne stehen zu bleiben. Kannste ja mal versuchen.«
    »Geht mit dem Taschenmesser sowieso nicht. Man braucht Macheten, wie im Urwald.«
    Eine Weile sprachen sie über die richtige Technik, erst beim Holzmachen und dann beim Peitschenknallen, und die ganze Zeit guckte er auf die blöde Uhr bei der Bushaltestelle, die in kleinen Sprüngen auf halb zehn losging. Dann sagte er, was er schon die ganze Zeit dachte:
    »Wir hätten noch jemanden gebrauchen können, eigentlich. Wenn wir vorne sind …«
    »Kein Mädchen.«
    »Auf der hinteren Seite natürlich.«
    Aber Nobs schüttelte den Kopf und sagte:
    »Möchte bloß wissen, ob das große Zelt schon steht.«
    »Logo. Glaubste, die bauen das erst morgen auf.«
    »Ich will’s aber sehen.«
    »Ich muss um halb zehn nach Hause.« Und es war Viertel nach neun.
    »Wenn wir rennen – am Altenheim vorbei, wo die kleine Brücke ist. Nur kurz gucken.«
    Er wollte kein Spielverderber sein, und er wollte das Zelt auch sehen, von dem sein Vater gesagt hatte, dass alle Leute, die in Bergenstadt wohnten, da reinpassten. Aber wenn’s später wurde als halb zehn, war das schlecht.
    »Ich muss erst fragen«, sagte er.
    Sie gingen den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, aber Tante Schuhmann und ihren Mann entdeckte er nicht mehr. Es war noch voller als vorher, und von manchen Tischen tropfte Bier. An der Bushaltestelle kotzte jemand, und zwei andere standen daneben und lachten. Wenn er nach oben sah, war der Himmel dunkel. Sie gingen mitten auf der Straße, kletterten über die Absperrgitter, an denen Leute lehnten, und dann an der Eisdiele vorbei, wo die Rheinstraße ihren Stand hatte. Seine Mutter saß mit Onkel Hans am Tisch.
    Er sah ihr an, dass sie geredet hatten. Nobs blieb beim Gitter stehen.
    »Na, junger Mann.« Onkel Hans sagte immer ›Na, junger Mann‹ und dann nichts weiter. Und er sagte »Hi« und stellte sich vor seine Mutter. Hatte Lust, sich mal kurz auf ihren Schoß zu setzen, aber das ging natürlich nicht. Auf dem Tisch standen zwei halbvolle Biergläser. Müde sah sie aus, drehte sich halb, stützte den Kopf auf eine Hand und sah ihn an.
    Er tat so wie manchmal, wenn sie Witze machten: Wie die ganz Coolen im Fernsehen stellte er sich an den Tisch, wackelte mit den Schultern und nickte ein paar Mal, wie ein Rapper, und sagte:
    »Na … Mama.«
    Sie machte mit, kniff ein Auge zu, hob zwei Finger und sagte:
    »Hey … Däniel.« Manchmal war sie nicht wie andere Mütter, sondern so als würde sie ihm gleich gegen die Schulter boxen aus Spaß. Manchmal tanzte sie im Wohnzimmer und sagte: Ganz schön flott deine Mutter, was? Aber nicht mehr oft, und er wusste nicht genau, wann es angefangen hatte aufzuhören.
    »Bin fast so weit«, sagte er.
    »Ist auch fast halb zehn.«
    »Nur beim Zelt muss ich noch mal gucken.«
    »Bei welchem Zelt?«
    »Auf der Wiese.«
    »Du hast noch zehn Minuten.«
    »Mama, es kann sein, dass es ein ganz kleines bisschen länger dauert.« Sie holte Luft, und er hob die Hände. »Kann sein, hab ich gesagt. Ich beeil mich ja.«
    »Du erinnerst dich an unsere Abmachung, oder?«
    »Es ist uns erst jetzt eingefallen. Ich will nur das Zelt sehen.«
    »Einmal gucken und sofort wieder zurück.«
    »Kapito.« Er ließ sich nach vorne fallen, in ihr Kopfschütteln hinein und roch das Parfüm an ihrem Hals. Seinen Vater sah er nicht. Hinter sich hörte er Nobs die Erkennungsmelodie pfeifen.
    »Schau dir das Zelt an, und dann komm schnell zurück«, flüsterte seine Mutter ihm ins Ohr und nahm die Hände von seinem Rücken.
    Er rannte los und hörte hinter sich Nobs’ Schritte, dann beinahe neben sich und wieder hinter sich, die Bachstraße runter, an der Bäckerei vorbei, über die Bahnschienen, zum Altenheim. Einen Moment lang glaubte er, rennen zu können bis zum Zelt, ohne müde zu werden, so als würde ihm der Boden entgegenkommen, und er müsste nur die Füße heben, sich einfach abstoßen vom rollenden Asphalt. Aber als die Straße aufhörte vor zwei rotweißen Pfosten, war er doch außer Atem. Nobs kam nur knapp nach ihm an.
    »Zwei Minuten zwölf … Mann.«
    Sie lehnten sich an einen Pfosten und japsten.
    »Um zwanzig vor … muss ich zurück … am Marktplatz sein.« Es stach in der Seite beim Sprechen. Hinter den Pfosten ging nur noch ein schmaler Weg am Lahnufer entlang, und es war weit bis zur nächsten Laterne. Er hörte den Fluss rauschen, aber den Festplatz

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