Grenzgang
Form wie Erwartung – schlank und gleichzeitig schwungvoll gerundet. Er warf das Magazin auf den Beifahrersitz und hörte Konstanze fragen: So schlimm?
So schlimm oder so schön. So bitter und so neu. Sein Alltag war in einem großen, blauen Plastiksack verschwunden und wartete unten bei den Mülltonnen auf die Weiterfahrt. Das Wort ›Abwicklung‹ kam ihm in den Sinn: die Sachlichkeit einer Prozedur ohne handelndes Subjekt. Und Konstanzes Rücken, merkwürdigerweise, der schlankste, grazilste, weichhäutigste Frauenrücken, über den seine Finger und Lippen je gefahren waren, aber jetzt fuhr er weg von ihr, und auch das fühlte sich … Er setzte sich wieder auf den Tisch, stützte die Füße auf die Bank. Es fühlte sich gut an, einfach nur gut. Weidmann aß die zwei Sandwichs, trank Bier und rauchte. Wie das Wiederfinden eines Kartons mit alten Fotos, Briefen, Krimskrams in einem lange gemiedenen Speicher: die Wiederentdeckung eines verschütteten Reichtums von rein persönlichem Wert. Es war unwahrscheinlich, dem eigenen Leben so schnell entfliehen zu können, und trotzdem kam es ihm so vor. Als wäre die A 2 eine Einbahnstraße und Umkehr undenkbar. Er rauchte seine vierte oder fünfte Zigarette, und zum ersten Mal schmeckte es ihm. Das hieß doch: Es bedurfte nur einer kurzen Zeit der Umgewöhnung, da war noch genug anderes Ich in ihm, ein zähes und kampfbereites, das nicht einmal die stickige Luft einer deutschen Bildungsanstalt hatte zur Mumie werden lassen. Wie er es verwenden würde, wusste er noch nicht, einstweilen war er froh über die unerwartete Gesellschaft dieses anderen Selbst.
Ein Wagen rollte vorbei und hielt drei Parkbuchten entfernt. Die Scheinwerfer erloschen, das Licht im Innenraum ging an, synchrone Elternblicke richteten sich auf die Rückbank. ImKofferraum des Kombi stapelte sich das Gepäck bis zur Decke.
Er war überrascht, wie absurd ihm der Gedanke vorkam, Konstanze anzurufen.
Nach dem zweiten Klingeln hob sie ab.
»Ich bin’s«, sagte er und blies Rauch in die Nacht.
»Wo bist du?«
»Kurz vor Magdeburg.«
»Erst?«
»Viel Verkehr«, log er. Von seinem steinernen Abschiedsgruß ins Institut wollte er lieber nichts sagen. Sie würde ihn für wahnsinnig halten.
Wie ein Blatt, das vor dem Versinken kurz auf der Wasseroberfläche gelegen hat, ging ihr Gespräch in Schweigen unter. Fahrer- und Beifahrertür des Kombi sprangen auf, Vater und Mutter stiegen aus, er öffnete die linke, sie die rechte Seitentür, alles synchron, eingespielt, familiär. Erst als ein Kind getragen wurde und das andere selbst lief, wurde aus dem Muster ein lebendiges Bild.
»Warum rufst du an?«
»Wollte nur mal deine Stimme hören.«
»Ich hab aber keine Lust, einfach irgendwas zu sagen.«
»Sei nicht so kratzbürstig. Ich sitze auf dem Rastplatz und hatte Lust dich anzurufen. Ich hab mir keinen Grund zurechtgelegt.«
Das ältere der beiden Kinder, ein Mädchen im Kindergartenalter, kam in seine Richtung gelaufen und blieb in einigem Abstand stehen. Sah ihn an. Er winkte, und sie legte den Kopf schief und rannte zurück zu ihrem Vater. Genau genommen hatte er auch keine Lust, einfach irgendwas zu sagen.
»Soll ich ihn nicht lieber hier wickeln?«, fragte die Frau vom Auto aus.
Nein, dachte Weidmann. Er wollte nicht zum Beobachter intimer Kinderpflege werden. Die ganze Familie störte ihn, und Konstanze schwieg noch immer. Am Schreibtisch sitzend, inder Vorbereitung ihres Unterrichts unterbrochen, er hörte leise Musik im Hintergrund und wunderte sich, dass es ihn nicht verlangte, dort hinter ihr zu stehen und ihr die Schultern zu massieren, bis sie beschloss, die restliche Vorbereitung am Morgen zu erledigen.
»Du weißt es selbst«, sagte sie schließlich. Wie immer machte sie es ihm leicht, alles abzustreiten, sich der Wendung des Gesprächs zu verweigern, nicht einzuräumen, dass er zwar wörtlich genommen Recht hatte, aber wenn man alles andere einbezog – das Magazin auf dem Beifahrersitz, seine frei schwingenden Gedanken, die Bereitschaft zur Flucht –, dann nicht mehr. Alles in allem hatte er selten Recht, und vielleicht deshalb oder wegen der Entfernung zwischen ihnen verzichtete er diesmal auf Leugnung. Verteidigte sich eher gegen das Schweigen als gegen ihre Vorwürfe.
»Das, was ich zehn Jahre und länger als meinen Beruf angesehen habe, ist heute …«
»Nicht heute«, unterbrach sie ihn. »Vor Monaten.«
Zu seiner Erleichterung hatte die Familie beschlossen, den Wickelraum
Weitere Kostenlose Bücher