Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
A 2 führte geradeaus durch flaches Land. Große blaue Schilder trieben malrechts, mal über ihm vorüber. Beim nächsten Rastplatz setzte er den Blinker.
    Während des größten Teils der Fahrt durch Brandenburg war ein heller Schimmer am Horizont zu sehen gewesen, aber jetzt hatte die Nacht dicht gemacht, hielt die Wärme unter einer Wolkendecke gefangen und empfing ihn mit Milde und Benzingeruch, als er am hinteren Ende des Parkplatzes den Motor abstellte und die Fahrertür öffnete. Er hatte Hunger. Autos wischten vorbei, und die Lichter kamen ihm langsamer vor als die Geräusche.
    Einen Stein durch das Fenster des Instituts zu werfen!
    Er versuchte den Geruch der Landschaft zu entdecken hinter Abgasen und den Dünsten der Rasthofküche. Die Dunkelheit ringsum ließ auf Wiesen und Weiden schließen, nur am Horizont war Magdeburg als bleiche Pagode über der Ebene auszumachen. Statt die Toiletten aufzusuchen, überquerte er den leeren Parkplatz und stellte sich an dessen rückwärtigen Zaun. Der Asphalt war warm, Uringeruch hing über den Büschen und noch etwas anderes, das Weidmann gegen alle Wahrscheinlichkeit als Thymian bestimmte, fremd und würzig und wohl das Produkt seiner erschöpften Phantasie. Noch während er pisste, nahm er eine Zigarette aus der Packung in seiner Hemdtasche. Seine Finger fühlten sich steif an. Er ließ abtropfen, zündete die Zigarette an und sah seinen Schatten auf die Wiese fallen, als hinter ihm ein Wagen anfuhr. Im Osten führte die Autobahn eine leichte Anhöhe hinauf, die hinuntergefahren zu sein er sich nicht erinnerte. Er ging zurück, setzte sich auf einen Tisch aus Stein und stützte die Füße auf die davor stehende Bank. Weiter weg standen Fernfahrer um die offene Führerkabine eines LKW. Zehn Uhr. In Bergenstadt neigte sich der Kommers dem Ende zu, und alle machten sich auf den Heimweg, damit sie morgen früh um sechs, wenn die Böllerschüsse vom Schlossturm erklangen, bereit waren für das große Fest.
    Er hatte lange nicht mehr so gesessen und in die Nacht geraucht. Statt schlechten Gewissens machte sich eine Art vonVerlangen in ihm breit, wie man es bei der Ankunft am Urlaubsort empfindet, diese Mischung aus Freude und Heimweh, jedenfalls wenn man in der Nacht ankommt. Möglichkeiten wurden zu Gedanken: nicht nach Bergenstadt, sondern weiter ans Meer zu fahren. Irgendwo in Küstennähe würde eine Pension stehen mit Blick auf endloses Blau. Ein Gast ohne Gepäck sein, der die Phantasie der Betreiber beschäftigt, sie dazu bringt, noch einmal die Zeitung von gestern durchzusehen … Aber er wollte sich keinen Illusionen hingeben. Tageslicht würde seinem Gefühl den Garaus machen, hier oder dort, in Bergenstadt oder am Meer. Er war nicht der Typ fürs Provisorium. Er führte Buch über die Bücher, die er las. Den Gedanken, seine Mutter anzurufen, erwog er und verwarf ihn wieder. Nichts würde er unternehmen, was ihn verpflichtete, zu tun, was er sich vorgenommen hatte – er tat es ja sowieso. Und er war zu müde, um die Nacht durch zu fahren.
    Mit langsamen Schritten ging er über den Parkplatz. Hier und da standen Autos mit Fahrrädern oder Surfbrettern auf dem Dach, Kinder hingen schlafend in den Gurten oder tappten an der Hand ihrer Eltern Richtung Toilette. Eine Frau stillte ihr Baby, und Weidmann blickte diskret zur Tankstelle, wo Männer neben Zapfsäulen gähnten, sich im Nacken kratzten und die Arme streckten. Der Anblick brachte ihm seine eigene Müdigkeit zu Bewusstsein. Am vernünftigsten wäre, ein paar Stunden zu schlafen, notfalls im zurückgeklappten Fahrersitz. Er betrat die musikunterlegte Stille des Aral-Shops, entschied sich nach einem Blick auf die mürrischen Gesichter der Bedienungen gegen den nierenförmigen Theken-Parcours entlang der Essens- und Getränkeausgabe und begnügte sich mit zwei abgepackten Sandwichs aus dem Kühlregal und einer Dose Bier. Ohne nachzudenken, aber nach einer schnellen Vergewisserung, dass sich vor der Kasse keine Schlange gebildet hatte, nahm er ein in Plastik eingeschweißtes Magazin aus dem Zeitschriftenständer. Beim Bezahlen hielt er die Augen auf das Kaugummisortiment neben der Kreditkartenmaschine gerichtet. Albern, diesererhöhte Pennälerherzschlag. Als er schon draußen war, fiel ihm ein, dass er auch hätte tanken müssen.
    Erst in einiger Entfernung von den Lichtern des Rasthofs fand er das Gefühl wieder, das ihn beim Aussteigen empfangen hatte: Einsamkeit in ihrer flüchtig süßen Form, derselben

Weitere Kostenlose Bücher