Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
konnte er nicht sehen, auch kein Zelt. Es standen zu viele schwarze Bäume davor.
    »Okay, Mutprobe«, sagte Nobs. »Wer sich traut … alleine von hier bis zur Brücke zu gehen.«
    »Und der andere?«
    »Ganz einfach: Du gehst zuerst, und ich guck auf die Uhr. In zwei Minuten komm ich nach. Es ist nicht weit bis zur Brücke, aber tierisch dunkel.« Die Bäume waren noch dunkler als der Himmel.
    »Soll ich pfeifen, wenn ich ankomme?«
    »Nur wenn was passiert. Wenn du umknickst oder so.«
    »Okay«, sagte er.
    »Noch dreißig Sekunden.«
    Rechts standen ein paar Autos auf dem Parkplatz, und links das Haus war auch ein Altenheim, mit zwei Stockwerken, nicht so hoch wie das andere weiter vorne. Er konnte sich erinnern, dass er einmal drin gewesen war, als sein Opa im Bett gelegenhatte mit einem Schlauch in der Nase. Zwischen Haus und Parkplatz begann der Weg und verschwand nach ein paar Metern im Schwarzen. Das Wehr gurgelte hinter den Bäumen.
    »Los!«
    Er ging ganz normal los, aber es waren nur fünf oder sechs Schritte, bis alles um ihn herum dunkel wurde. Ein Ast streifte seinen Arm. Er kannte den Weg. Manchmal war er mit dem Fahrrad hergekommen, man konnte weiter bis zur anderen Brücke fahren und dann noch weiter, an der Schule vorbei, bis wieder eine Brücke kam und der Weg zurückführte. Jetzt jedenfalls noch, nächstes Jahr würden sie da die Umgehungsstraße bauen. Und die Brücke, zu der er gerade ging, gab’s nur im Sommer, die wurde vom Technischen Hilfswerk aufgebaut.
    Die Luft wehte kühl vom Wasser her, und sein Atem ging immer noch schnell.
    Er musste langsamer gehen, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Wegränder sehen konnte. Es gab Dellen im Boden. Um ihn herum rochen die Hecken so, als ob es geregnet hätte. Und unten, wo die Bäume noch keine Äste hatten, konnte er Licht auf dem Wasser sehen, aber nicht, wo es herkam.
    Du machst alles schlecht, was mit Bergenstadt zu tun hat. Merkst du das?
    Überall standen Bänke für die alten Leute aus dem Heim, und als er einmal nicht aufpasste, stieß er sich den Oberschenkel. Der Weg machte Schlangenlinien zwischen Hecken und kleinen Bäumen, kleiner als die direkt am Ufer. Er hatte ungefähr die Hälfte geschafft. Kurz blieb er stehen. Am Ende des Weges sah er eine Gestalt, aber ob es Nobs war, wusste er nicht. Er horchte und glaubte ein Lachen zu hören. Auf den Armen bekam er Gänsehaut. Manchmal hatte er abends Schiss, alleine in den Keller zu gehen und Saft zu holen. Früher hatte er geglaubt, da wohnte noch wer.
    Und du machst alles mit, was mit Grenzgang zu tun hat. Merkst du das? Jeden Scheiß!
    Er ging weiter und entdeckte den Schatten der Brücke über dem Fluss, vor ihm, wo der Weg eine letzte kleine Biegung machte, wo die einzige Laterne stand. Er konnte aber auch links gehen, über das Grasstück und dann über das Blumenbeet springen. Das war kürzer, und er wollte kein Licht.
    Wieder das Lachen. Vor der Laterne stand eine Bank, und darauf saßen zwei. Er konnte nur Schatten sehen gegen den Schein der Laterne. Er musste aufpassen, nicht selbst ins Licht zu treten. Die Feuchtigkeit der Wiese kam durch seine Sandalen. Langsam ging er weiter, am schwarzen Rand des Blumenbeets entlang, und über ihm waren schon die Äste der großen Bäume. Seine Schritte gingen unter im Rauschen des Flusses. Ein Mann und eine Frau, die saß halb auf seinem Schoß und wackelte manchmal mit dem Rücken, als ob sie gekitzelt würde. Er blieb stehen und sah hin. Sein Herz schlug nicht schnell und nicht langsam, aber stärker als sonst. Er hatte die Brücke so gut wie erreicht, musste nur noch über das Beet springen und die letzten Meter zum Flussufer gehen.

    * * *

    Zwei Stunden lang fuhr er Strich einhundertzwanzig. Nach Möglichkeit hielt er sich auf der mittleren Fahrspur und unterdrückte das Verlangen, eine Toilette aufzusuchen, ebenso wie alle Gedanken an das, was er dennoch als die dunkle Gestalt einer begangenen und nicht wieder ungeschehen zu machenden Dummheit zu erkennen begann. Wie ein stummer Fahrgast saß sie im Fond. Er konzentrierte sich auf den Verkehr, kniff die Augen zusammen gegen das anhaltende Trunkenheitsgefühl und merkte erst kurz vor Magdeburg, dass er so verspannt war, als hätte er die ganze Zeit über einen Schlag in den Nacken erwartet. Seine Hände krallten sich ums Lenkrad. Von den Waden bis zu den Schultern, vom Steiß bis in den Nacken hatte er Muskelschmerzen wie nach einer durchzechten Nacht. Die

Weitere Kostenlose Bücher