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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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während sich ein Leuchten auf ihre Züge legte.
    »Wenn das mal nicht mein Sohn ist.« Wie immer beim Wandern hatte sie sich ein Tuch um die Stirn gebunden, auf dem sich erste dunkle Flecken zeigten. Er ging ihr entgegen und umarmte sie ebenso wie zuvor seine Tante und dachte, was für ein Glücksfall es war, dass sie einander erst hier begegneten. Noch eine halbe Stunde zuvor hätte er sich durch seinen verkniffenen Blick verraten.
    »Hab mich ganz kurzfristig entschlossen «, sagte er.
    Noch einmal hielt sie ihm die Wange hin, blickte ihm prüfend ins Gesicht und dann an ihm herab.
    »So sehen also Professoren aus, wenn sie wandern gehen. Du hast nicht geschlafen.«
    »Trink einen Sekt mit uns«, sagte er und half ihr die paar Schritte hinauf auf das Plateau des Waldweges.
    »Kinder, Kinder, dieser Berg schafft mich. Un Anni, äich hoos imma werra gesoad: Derres Joar ess doas läzde Mol. Wann ma i sewwe Joar noch leewe, nomme ma den Bus.« Sie hakte sich bei ihrer Schwester unter, und trotz dreier Jahre Altersunterschied glichen die beiden einander fast wie Zwillinge.
    »Ich hab’s mir fast gedacht«, sagte sie. »Du hast schon als Kind immer erst Nein gesagt und trotzdem nie gerne was verpasst. Wäsde noch, Anni, wie he imma …?« Und so weiter, und so fort. Sie standen zusammen und redeten, Weidmann ließ sich von Zeit zu Zeit liebevoll in die Wange kneifen und gab Frau Bamberger mit Blicken zu verstehen, dass er sich nicht unbedingt altersgerecht behandelt fühlte. Die ihrerseits lächelte abwesend und schaute zwischendurch den Hang hinauf und hinunter, als drohte ihr von irgendwo Gefahr. Er wunderte sich, dass sie nicht weiterging, um nach ihrem Mann oder ihrem Sohn zu schauen. Der Zug der Wandernden schienunterdessen weder abzureißen noch auszudünnen; zwischen den Bäumen hindurch ging der Blick bis hinunter auf die Bundesstraße, und immer noch kamen aus Richtung Bergenstadt Gesellschaften mit ihren Führern und Fahnen und bogen in den Kleiberg ab. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Weidmann das Gefühl, sicher auf dem Boden zu stehen. Der Sekt tat gut, stimmte ein in seinen erhöhten Pulsschlag und prickelte die Kehle hinab.
    Frau Bamberger hatte ihren schon ausgetrunken.
    »Ich nehme Ihnen das ab«, sagte er und griff nach der Flasche.
    »Danke.«
    »Bei welcher Gesellschaft sind Sie, wenn ich fragen darf?«
    »Rheinstraße. Mein Mann ist da …«, sie zuckte mit den Schultern, »Führer.«
    »Verstehe.« Jürgen Bamberger gehörte zu jenen Bergenstädtern, die auf jeder Hochzeit tanzten und in allen Vereinen einen Posten innehatten. Seine Frau wirkte etwas zu klug für einen solchen Hinz-und-Kunzler, aber sie hatte ja noch kaum was gesagt.
    Als sie weitergingen, brachte er das Gespräch auf andere Themen. War überrascht, wie sie ohne zu zögern nach seiner Hand griff, wenn er sie ihr in einer besonders steilen Passage anbot. Sie kamen beide außer Atem beim Sprechen. Der Sekt schien eine belebende Wirkung auf Frau Bambergers Zunge zu haben, und auf ihre Gesichtszüge auch. Irgendwie wurde sie jünger, je weiter es bergan ging, band sich im Gehen die Haare zum Zopf und krempelte die Hose bis zu den Knien hoch. Dann entdeckten sie, dass sie zur selben Zeit in Köln studiert hatten, und verglichen für den Rest des Aufstiegs Adressen, Bekannte und Lieblingsorte, bis Weidmann sagte:
    »Bestimmt sind wir uns mal beim Altweiberkarneval begegnet, und Sie haben mir die Krawatte abgeschnitten.«
    »Kann sein«, sagte sie, eine Spur zu nachdenklich.
    Unmittelbar über ihnen flachte der Kleiberg ab, einigeFelsbrocken stießen durch den Waldboden, und durch die lichter werdenden Blätter fielen Sonnenstrahlen auf die Wanderer. Zwei Jungs blickten ihnen von einem steinigen Vorsprung aus entgegen, der eine schaute konzentriert auf die Stoppuhr in seiner Hand, und der andere erwiderte etwas abschätzig Frau Bambergers Winken.
    »Ihr Sohn?« fragte er.
    »Ja.« Ihm gefiel der Stolz in ihrer Stimme, und ihm gefiel überhaupt ziemlich viel an ihr, dachte er, während sie zu ihrem Sohn ging und er sich etwas abseits hielt.
    »Geht’s dir besser, mein Schatz?«, hörte er sie fragen.
    »Schatz mit Furz. Zwölf Minuten zweiunddreißig warten wir schon hier. Warum trödelst du immer so?«
    »Wir waren schon vor dem Wettläufer hier oben«, sagte der andere.
    »Toll seid ihr. Hast du deinen Vater irgendwo gesehen?«
    »Der ist vor sechs Minuten fünfzehn hier vorbeigekommen.« Gegen seinen Willen empfand Weidmann das als

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