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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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dieses Hügels. Blutige Blasen würde er sich holen, dazu Muskelkater in Schenkeln und Waden, aber es war ihm egal. Der Kleiberg stand vor ihm und wollte bezwungen werden. Er wischte sich die Stirn und nickte. Hier und da lehnten die ersten Grenzgänger gegen Baumstämme und verfluchten ihr Übergewicht. Der ganze Wald war voller Menschen. Blitzlichter von Kameras erhellten die Dämmerung unter dem dichten Blätterdach. Der Aufstieg zum Kleiberg war einerseits eine Übung in Bescheidenheit und andererseits die beste Gelegenheit, sich so zu fühlen, als würde man eine wirkliche Leistung erbringen, indem man Grenzgang feierte. Fremde Menschen zogen an Weidmann vorbei. Er hatte Lust auf Bier. Zweimal rutschten seine Schuhe unter ihm weg, als würden sie sich aus eigenem Entschluss auf den Rückweg machen wollen, und zweimal stieß er mit den Knien in weichen Waldboden, behielt braune Erdflecken auf der Hose zurück und das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Zwölf Stunden war es her, dass er sich wie ein Idiot benommen und einen Stein durch das Fenster des Historischen Seminars der Humboldt-Universität zu Berlin geschmissen hatte, aber jetzt erfreute er sich an der ungewohntenkörperlichen Anstrengung, der kaltfeuchten Waldluft und dem eigenen Schweiß. Den Blick auf den Boden gerichtet, zogen die Bergenstädter den Hang hinauf, dickköpfig engagiert im Kampf gegen sich selbst. Ein merkwürdiger Menschenschlag, dachte Weidmann. In den Adern dieser Grenzgänger schien ein dunkler, schwerer Most zu fließen, der sich in Momenten der Anstrengung bewährte. Mochten die Beine noch so schwer und das Ziel noch so fern sein, aufzugeben kam nicht in Frage, das hatte mit Ehrgeiz nichts zu tun, sondern entsprang einer innigen Freundschaft mit dem eigenen inneren Schweinehund. Vielleicht hatte Kamphaus das gemeint, als er fragte, ob er sich eigentlich selbst als Dickschädel bezeichnen würde.
    Je höher er stieg, desto mehr Schweiß lief ihm über die Schläfen ins Ohr und ließ die Geräusche ringsum zu einem Rauschen verschwimmen. Hauptsache, du gibst dein Bestes, hatte sein Vater ihm immer eingeimpft, und das war weniger Ansporn als Beruhigung gewesen, denn es hieß: Und wenn’s dann nicht klappt, war’s nicht deine Schuld. Die Bergenstädter Genügsamkeit, das Mostige – auch davon hatte der Bürgermeister am Marktplatz gesprochen, wenngleich in anderen Worten. Und er, Thomas Weidmann, war dem nie entkommen. Was damals in den ersten Berliner Jahren in ihm eher geglimmt als gebrannt hatte, war ein mit Bergenstädter Phlegma durchsetzter Ehrgeiz gewesen, der vor allem der Form genügen und sich ein gutes Gewissen für den Fall des Scheiterns erarbeiten wollte. Mehr nicht oder jedenfalls nicht viel mehr.
    Wie immer übertreibst du maßlos, hörte er Konstanze sagen und schüttelte den Kopf. Je schneller sein Atem ging, desto klarer erkannte er seine Situation. Was für eine Farce! Eine Flucht im Kreis. Und jetzt war wieder Grenzgang, waren sieben Jahre verflogen und vorbei und bald noch mal sieben und dann wieder sieben und immer so weiter, bis man zu denen gehörte, denen die säbelschwingenden Führer am Marktplatz ihre Reverenz erwiesen. Tradition! Wald! Heimat! Man gedachte der Toten und bekam Lust auf ein kühles Bier. War dasTradition? Während der Rede des Bürgermeisters hatte Weidmann in seinen Stadtkleidern in der Menge gestanden und sich umgeschaut: Lauter ernste, beinahe ergriffene Gesichter, so als würden für einen Moment alle glauben, was ihnen aus den Lautsprechern entgegenhallte. Und jetzt, während er seine Schritte seitlich in den Hang setzte, um nicht abzurutschen auf dem immer steiler werdenden Boden, jetzt glaubte er es selbst. Genau das war Tradition: Sich halten an das, was man hat. Vereinzelt stieß Sonnenlicht durch die Blätter der dicht stehenden Bäume. Sein Vater hatte daran geglaubt, so fest und selbstverständlich wie daran, dass sein Sohn es eines Tages zum Professor bringen würde, und nur weil er sich in dem einen getäuscht hatte, musste das andere keine Illusion sein. Tausende kämpften sich an diesem Morgen gemeinsam den Berg hinauf, und er empfand es als Glück … oder beinahe zumindest. Eine schlichte und bescheidene Vorform des Glücks, die mit Luft und Erde zu tun haben mochte. Oder mit Gemeinschaft und Bier. Nur dass sie Wurzeln haben könnte, erschien ihm unwahrscheinlich. Und wenn, dann bestanden sie in einem Sinn für Verlust und leichter Beschämung.
    Er erreichte den

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