Grenzgang
über den aufgetürmten Lockenwicklern. »Zwanzig Minuten«, wiederholt sie und drückt auf Start, bläst die Entgegnung ihrer Mutter mit einem Schwall warmer Luft fort.
Keinen Seufzer beim Verlassen des Zimmers, da achtet sie drauf wie früher auf die Fingernägel ihres Sohnes.
Auf der Terrasse bildet das Wasser kleine Pfützen auf den Grünsteinplatten, aber der Regen lässt bereits wieder nach. Im Westen dünnen die Wolken aus, lassen rot gefiltertes Licht durch und bringen die frisch gewaschenen Farben im Garten zum Leuchten; lila und weiß der Flieder mit seinen schwer duftenden Blüten, die sich jetzt unter dem Regen beugen. Die steileren Partien des Hanges dürfen wuchern nach Belieben, da quellen Hahnenfuß, Veilchen und Ehrenpreis bunt aus der Erde, und erst wo es wieder flacher wird, ranken sich Rosen ein stützendes Holzgitter empor, die Blüten offen, aber noch kelchförmig, gleichzeitig zart und fest. Die schneidet sie mehrere Tage lang, zögernd wie ein Friseurlehrling im ersten Lehrjahr, tritt nach jedem zweiten Schnitt einen Schritt zurück und prüft aus kritischen Augen das Ergebnis. Rosen wollen nicht nur gepflegt, sondern gebändigt werden, bis alle Wildheit sich in Kraft verwandelt hat, die aus weiten, im Wind zitternden Blüten strömt.
Was ist los mit dir?, würde Anita fragen. Es sind bloß Pflanzen. Bist du nervös?
»Halt den Mund«, sagt sie leise und geht in die Küche. »Du weißt nicht, wie es ist.«
Zum ersten Mal, seit sie einander kennen, hat Anita sie nicht zum Geburtstag angerufen. Freue mich über Nachrichten nach dem Signalton und bin Anfang Juni wieder unter dieser Nummer zu erreichen. Wo sie sich bis dahin aufhält, verrät ihr Anrufbeantworter nicht.
Kerstin nimmt blaurandige Teller und Becher aus dem Küchenschrank und beschließt, an diesem Abend den elektrischen Badestuhl aus der Wanne zu heben, sich mit einem Glas Weinins heiße Wasser zu legen und in der Brigitte zu blättern, die seit einer Woche ungelesen auf dem Wohnzimmertisch liegt. Mehrere Male sieht sie zum Telefon, während sie den Tisch deckt. Draußen hört es auf zu regnen. Eher um die Zeit zu vertreiben denn aus Notwendigkeit fegt sie das Wasser von der Terrasse und kontrolliert den Flieder auf Blattläuse, dann kehrt sie ins Haus zurück und hilft ihrer Mutter beim Entfernen der Lockenwickler.
Zum Abendessen macht sie Toast mit Camembert, Ei und Tomaten. Sieht durch das Küchenfenster, wie in die Dämmerung hinein noch einmal die Sonne hervorkommt und ihr bernsteinfarbenes Licht über den Blättern der Hecke ausgießt. Wie auf Meinrichs Hauswand die Schattenlinie steigt, so schnell oder langsam wie der große Zeiger der Uhr.
Der Toast wird gar. Sie stellt den Ofen aus und sieht nach ihrer Mutter. Die ordnet gerade alle Lockenwickler einzeln in eine leere Keksdose und trägt noch den grünlichen Plastikumhang um die gebeugten Schultern. Prüft ihre Frisur in einem kleinen Stellspiegel, hat wie immer unter der Haube das Hörgerät rausgenommen und merkt nicht einmal, dass jemand ins Zimmer getreten ist. Kerstin sieht ihr dabei zu, wie sie einen Lockenwickler nach dem anderen vom Tisch nimmt, mit zitternden Händen, und wie sie manchmal in der Bewegung innehält, gar nichts tut, einfach nur dasitzt. Reglos. Dann der nächste Handgriff. Der Anblick dieser unmenschlichen Langsamkeit erfüllt Kerstin mit einer Mischung aus Mitleid und Wut, gegen die sie sich schließlich nur mit dem Schließen der Tür wehren kann. Noch einmal tritt sie auf die Terrasse. Die Luft ist kühl jetzt. Sie friert an den nackten Waden.
Seit einer Woche nimmt sie sich jeden Abend vor, Daniels Klassenlehrer anzurufen, um einen Termin für ihr Gespräch zu vereinbaren, und tut es dann doch nicht. Immerhin, ihren Anwalt hat sie angerufen, zum ersten Mal seit drei Jahren, und prompt ist gestern eine Sendung mit Informationsmaterial zum neuen Unterhaltsrecht gekommen. Die entscheidendenPassagen mit gelbem Textmarker unterstrichen: Stärkung der nachehelichen Eigenverantwortung, keine unbegrenzte Lebensstandardgarantie mehr, Begrenzung des Unterhaltsanspruchs im Sinne eines moderaten Abschmelzens des Unterhalts – die Prosa der neuen Bescheidenheit. Ob sie sich eine Arbeit werde suchen müssen, hat sie am Telefon gefragt, und auch dazu findet sie einen gelb unterlegten Satz: Die Rückkehr in den erlernten und vor der Ehe ausgeübten Beruf soll künftig eher zumutbar sein; dies selbst dann, wenn damit ein geringerer Lebensstandard als in
Weitere Kostenlose Bücher