Grenzgang
gute Nachricht. Er blickte den Hang hinab und versuchte zu Ende zu denken, was ihm während des Aufstiegs durch den Kopf gegangen war. Schon den ganzen Sommer über hatte sich in ihm die Ahnung breitgemacht, dass sein Ehrgeiz vergebens und er auf ganzer Linie gescheitert war. Und nun kam die Erkenntnis hinzu, dass er nie Ehrgeiz im eigentlichen Sinne besessen hatte, sondern allenfalls dessen hässlichen Zwilling, die Eitelkeit. Bloß was folgte daraus? Sollte er die Hände in den Schoß legen und sich der Einsicht ergeben, dass in allen menschlichen Dingen die Vergeblichkeit nun einmal den längsten Atem besitzt? Was unterschied diese Einsicht dann noch vom Bergenstädter Phlegma, außer dem Umweg, auf dem er zu ihr gelangt war? Anders gesagt: Nichts gegen die Einsicht als solche, aber ohne die Fähigkeit, mit ihr auch leben zu können, war sie offensichtlich von begrenztem Wert.
»Überlegen Sie, den Berg noch mal runterzugehen?«
Er drehte sich um. Frau Bamberger stand mit verschränktenArmen, wo sie vorher gestanden hatte – als würde sie ihn schon eine geraume Weile beobachten. Die beiden Jungs waren verschwunden.
»Bitte?«
»Sie stehen so da.« Ihr Kinn wies den Hang hinab.
»Nein. Ich gehe nicht gerne zurück. Wo ist Ihr Sohn?«
»Auf und davon.«
»Kennen Sie das auch? Dieses Gefühl, plötzlich etwas zu verstehen, was Sie eigentlich schon immer gewusst oder geahnt haben? So eine Art Wahrheit.« Abrupt hielt er inne. Er hatte nicht nachgedacht beim Sprechen, sondern einfach gesagt, was ihm durch den Kopf ging, aber sie sah ihn an und nickte, ohne die Verschränkung ihrer Arme zu lösen.
»Sie würden sich wundern. Sie würden sich sehr wundern, wenn Sie wüssten, wie kurz es her ist, dass ich zuletzt genau dieses Gefühl hatte.«
»Gut. Sehr gut. Dann können Sie mir auch sagen, ob in diesem Gefühl eher ein Trost liegt oder ein Grund, Angst zu haben.«
Für einen längeren Moment blickte sie ihn an, als ob sie fragen wollte: Was wollen Sie eigentlich von mir? Sonne fiel auf ihr Gesicht und malte ein Relief winziger Falten darauf.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Ich befürchte, gerade das kann ich nicht.«
* * *
Zwanzig Röllchen liegen in einer Reihe auf dem Tisch, daneben der Kamm, die Nadeln, das Haarwasser, eine silbrige Dose mit Haarspray, und ihre Mutter sitzt rundgebeugt auf ihrem Stuhl, sieht hinaus in den Regen und sagt zum dritten Mal:
»Ist doch was, ja, brauchst nicht mehr immer mit den schweren Kannen …«
Die Frau von der Diakonie ist weg, nur der Geruch von Badezusatz und Schweiß, den sie beim Verlassen des Badezimmershinter sich herzieht, schwebt noch durch die Diele und herein in das Zimmer ihrer Mutter. Omas Badewumme, nennt Daniel sie, wegen ihres Körperumfangs und dem geröteten Gesicht und weil die Vorstellung, von Frau Kolbe gebadet zu werden, etwas ebenso Lustiges wie Beängstigendes hat, für einen Pubertierenden allemal. Deren Unterarme können es mit Kerstins Waden aufnehmen.
»Nicht so fest«, sagt ihre Mutter, auch das zum dritten Mal. »Machst mich ja noch ganz kahl.«
»’tschuldigung.« Sie dreht das letzte Röllchen einen Millimeter zurück und befestigt es mit einer der Nadeln, die ihre Mutter ihr über die rechte Schulter hinhält. Dünnes, weißes Haar und dazwischen blasse, altersfleckige Kopfhaut. Draußen rauscht der Regen. Ihre ungeübten Finger zittern, wenn sie eine Strähne von den Spitzen her eindreht, mit einer Hand festhält und mit der anderen die Nadel hindurchsteckt. An den verspannten Schultern ihrer Mutter merkt sie, wie diese auf den Moment wartet, da sie zu fest zieht oder zu tief sticht, geduckt, als rechnete sie mit einem Schlag auf den Hinterkopf.
»Fertig.« Sie lässt los und sieht nach draußen. »Würde dir eigentlich nicht auch ein Kurzhaarschnitt stehen? So wie Tante Gerdi.«
»Drei Nadeln hab ich noch, ja.«
»Aber keine losen Haare mehr. Zwanzig Minuten Haube, danach gibt’s Essen.«
Eine Woche Sonnenschein hat den Garten in ein Meer aus Blättern und Blüten verwandelt, die sich jetzt dem Regen entgegenstrecken. Auf der Terrasse hört sie das Plätschern des Wassers, das durch die geöffnete Rinne ins Regenfass strömt. Außen auf der Fensterbank machen vereinzelte Tropfen ein hohles Geräusch.
»Wo ist Daniel?«
»Bei seinem Vater.« Mit der Rechten zieht sie die elektrische Trockenhaube heran, nimmt ihrer Mutter die Haarnadeln aus der Hand und platziert die unförmige, an eine Tauchglockeerinnernde Haube
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