Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
an einer schmalen Stelle hat Russland noch Zugang zum Schwarzen Meer. Der Kaukasus und Zentralasien, mehr als ein Jahrhundert unter russischer Herrschaft, sind selbständige und unterschiedlich potente Staaten. Der gesamte Grenzverlauf im Westen, im Süden und Südosten hat sich verschoben. Städte, die einmal mitten im europäischen Teil der Sowjetunion lagen – Rostow am Don, Astrachan –, sind fast Grenzstädte des Südens geworden. Orte russischer Geschichte liegen nun auf »fremdem Territorium« – man denke nur an die Krim, Sewastopol oder Odessa. Was einmal sowjetischer Orient war, liegt außerhalb. Die Grenze in Fernost ist formell unangefochten, aber jeder weiß, dass an dieser Linie ein menschenarmes riesiges Gebiet an das hochdynamische, überbevölkerte Territorium der Volksrepublik China stößt und eine stumme Migration im Gange ist, die auf Dauer die demographischen Verhältnisse grundlegend verändern wird.
Aber es bleibt nicht bei den äußerlichen Veränderungen des Territoriums, wie sie sich in Grenzverschiebungen niederschlagen. Millionen ethnischer Russen leben jenseits der neuen Grenzen, Millionen sind dabei auszuwandern, sitzen auf ihren Koffern, eine neue Diaspora, Russia on the move . Eine technische, logistische, kommunikative Infrastruktur, die in Jahrzehnten des sowjetischen Aufbaus gewachsen ist – und oft noch älter ist –, ist von der Desintegration des Territoriums überholt worden. Die Linien, die Industriekombinate, Häfen, Städte verbunden haben, sind zerschnitten. Auch innerhalb der verbleibenden Russischen Föderation hat eine spontane, der wirtschaftlichen Entwicklung folgende Migration eingesetzt, eine Abwanderung aus den Städten des Nordens, die vom staatlichen Budget nicht mehr gehalten werden können, in die Städte des Südens. Der Norden, bisher schon wenig besiedelt, wird durch die Abwanderung noch mehr von Menschen entleert. Dem stehen ganz wenige Zonen der Verdichtung von Bevölkerung, Kapital, Investitionen – wie im »Planeten Moskau« oder im Korridor Moskau-Sankt Petersburg – gegenüber. Aber auch damit ist das irritierende Puzzle noch nicht vollständig. Die Russische Föderation hat die längste Außengrenze der Welt. Diese Außengrenzen sind mitunter auch Grenzen zu Militär- und Wirtschaftsbündnissen. Sankt Petersburg liegt kurz hinter der Grenze der Europäischen Union und der Nato, Kaliningrad liegt exterritorial inmitten von Nato und EU -Territorium. Die USA führen Manöver auf der Krim durch und bilden Streitkräfte in Georgien aus. Amerikanische Basen sind in den zentralasiatischen Staaten angelegt worden. Am Kaspischen Meer fördern internationale und US -amerikanische Gesellschaften Öl und Gas. Es ist daher zutreffend, vom »Archipel Russland« (Leslie Dienes) zu sprechen. Russland ist, genauer besehen, ein fragmentierter Staat, Patchwork, ein Komplex aus einigen städtischen Agglomerationen, die wie Inseln im Landozean liegen. Jedenfalls gibt dies eine realistischere Vorstellung vom Stand der Dinge als das Homogenität suggerierende Kartenbild. Die Frage ist – in meinen Augen –, wie ein Volk, eine Regierung, eine Gesellschaft oder Nation mit einem derart fragmentierten Territorium, mit einem solchen »Archipel« fertig wird, wie es seinen Zusammenhalt, seine Integration und Integrität bewahren kann.
Unter diesen Bedingungen stellen sich alle alten Fragen russischer Staatlichkeit und Identität wiederum neu: Wie definieren wir uns in dieser veränderten Situation? Wo verlaufen unsere Grenzen? Isolation oder Öffnung zur Welt hin? Zentralisierung oder Dezentralisierung? Hierarchie oder horizontale Vernetzung? Entwicklung des Landes durch andauernde Abhängigkeit von den Rohstoffen und von den rohstoffreichen Naturräumen oder Minderung dieser Abhängigkeit durch die Entwicklung der produktiven Zweige der Wirtschaft? Ist Russland nicht zum Anhängsel, ja zur Geisel des Naturraums Sibirien und seiner außerordentlich reichen Ressourcen geworden? Entwicklung des Landes nach Westen hin oder nach Osten oder als Brücke, die zwischen beiden vermittelt? Um diese Fragen wird gerungen, leidenschaftlich, demagogisch, ideologisch, auch ernsthaft. Sie sind hier nur genannt, um die historische Situation für die Neuverhandlung des russischen Falles, die Temperatur des Diskurses anzugeben. Alle Debatten um die Identität sind ernst zu nehmen und keine Inszenierungen, obwohl es auch diese gibt.
Der russische Raum als Topos der russischen Kultur
Es
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