Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
fällt uns in Deutschland nicht so leicht, von »russischem Raum« zu sprechen. Der Terminus ist vorbelastet, kontaminiert. Vom »russischen Raum« sprachen die Nazis und meinten damit das Kolonialreich, das sie nicht in Indien, sondern in Kontinentaleuropa zu errichten gedachten. »Russischer Raum«, das waren: unendliche Weizenfelder, »die Ukraine als Kornkammer«, Bodenschätze aller Art, einschließlich Öl am Kaukasus und am Kaspischen Meer, Phantasieraum der Ingenieure der »Organisation Todt« für die Konstruktion von Autobahnen und transkontinentalen Super-Breitspur-Eisenbahnen, die Kohle und Erze aus dem Donbass in die »Schmieden des Reiches« und die Deutschen zum Urlaub auf die Krim bringen sollten. Russischer Raum war »Lebensraum« für die angeblich überbevölkerten Gebiete des Westens und Raum für die »Erneuerung biologischer und rassischer Vitalität«. Die Wehrmacht der Deutschen hat aus diesem prospektiven »Lebensraum« die verbrannte Erde von Stalingrad, Noworossijsk, den Pulkowo-Höhen und Minsk gemacht – ein Kontinent, ein Land in Ruinen.
Die deutschen Phantasien vom »russischen Raum« enthielten ein ganzes Programm: die Evokation von Ursprünglichkeit und Reinheit der Quellen, das Archaische und Barbarische als das Rettende auch, jenes Überlegene, vor dem sich das Höherentwickelte schützen zu müssen glaubt. »Russischer Raum« enthält ein Angstprogramm. Darin ist auch die Vorstellung von der Machbarkeit, der unendlichen Plastizität von Erde und Landschaft enthalten. Es ist das Hauptprojektionsfeld eines spezifisch deutschen Orientalismus. Später kamen die Räume der Erinnerung der Kriegsgefangenschaft hinzu – man denke nur an die Abenteuer des Clemens Forell in Joseph Martin Bauers Roman »Soweit die Füße tragen« und dessen nachmalige Verfilmungen.
Aber unabhängig von diesem Phantasma gibt es das: den russischen Raum. Er hängt nicht an den Projektionen oder Konstruktionen deutscher Rassetheoretiker oder Geopolitiker. Über den russischen Raum, über den Raum der russischen Geschichte und der russländischen Staatsbildung gibt es eine reiche und brillante Literatur – so wie es der Gegenstand gebietet. Den russischen Raum gibt es in den Landschaften der Maler Iwan I. Schischkin und Isaak I. Lewitan, in den Horizonten von Konstantin F. Juon. Er hat die Menschen, seit sie denken können, beschäftigt: als Segen oder als Schicksal, in jedem Fall als ein wesentlicher Aspekt russischer Existenz. Die Dichter haben den russischen Raum, die Orte russischer Kultur und russische Landschaft beschrieben und den Raum russischer Kultur mitkonstituiert – von Iwan Turgenjews »Adelsnest« bis zu den Bürgerkriegslandschaften in Boris Pasternaks »Doktor Schiwago«. Russischer Raum hat einen sound : die regelmäßigen Stöße der Eisenbahnwaggons, die Abschiedsmelodie aus dem Lautsprecher an den Anlegestellen der ablegenden Schiffe auf der Wolga oder dem Jenissei – das hat ein Russe, der lange in München gelebt und gearbeitet hat – Fedor Stepun – eindringlich aus dem Gedächtnis des Emigranten festgehalten. 9
Der russische Raum ist nicht eine Erfindung eines westlichen Orientalismus, sondern eine Kristallisierung der russischen Kultur selbst, auch wenn sie selten so rigoros und deterministisch formuliert worden ist wie von dem Philosophen Iwan Iljin: »Dem Russen ist sein Schicksal in der strengen Naturgegebenheit zugewiesen. Unerbittlich verlangt die Natur Anpassung. Sie kürzt den Sommer, zieht den Winter hin, trübt den Herbst und lockt im Frühling. Sie schenkt den Raum, aber erfüllt ihn mit Wind, Regen und Schnee. Sie bietet die Ebene, gestaltet aber das Leben auf dieser Ebene schwierig und hart. Sie schenkt die Ströme und macht den Kampf um ihre Mündungen zur schweren geschichtlichen Aufgabe. Sie erschließt die Steppe im Süden und führt aus der Steppe plündernde Nomadenvölker herein. Sie gönnt fruchtbaren Boden in Trockengebieten und beschert einen Waldreichtum auf Moor und Sumpf. Abhärtung ist dem Russen Lebensnotwendigkeit, von Verzärtelung weiß er nicht. Die Natur verlangt von ihm Zähigkeit ohne Maß, schreibt ihm seine Lebensweise in vielen Hinsichten vor und lässt ihn jeden Lebensschritt mit harter Arbeit und Entbehrung bezahlen.« Meistens aber geht es um mehr als nur eine Orts- oder Raumbeschreibung. Anton Tschechow etwa geht schon weit über das Konstatieren der Besonderheit der Landschaft hinaus, wenn er eine Beziehung zwischen Landschaft und
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