Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Hier ist die Falle renegatenhaften Eiferertums und der Rechthaberei aufgestellt, in die man leicht fallen kann. Aber hier ist eben auch ein spezifisch scharfer Erkenntnisgewinn möglich, der mit Nähe, Intimität, Vertrautheit zu tun hat. Die Konterrevolution hat erst recht ihre Ehemaligen. Sie werden der Reihe nach ausgefällt als Splitter der alten, dem Untergang geweihten Welt: Adlige, Gutsbesitzer, Geistliche, Intelligenzija, Arbeiterrevolutionäre, Offiziere, Emigranten, Kulaken. Aus ihrer Sicht der Dinge ergibt sich das Gegenbild. Man kann so ein Bild zusammensetzen. Auch der Renegat hat ein scharfes Auge. Er hat alles bis zu einem Punkt mitgemacht. Dann kommt der Bruch. Aber es bleibt die intime Vertrautheit mit den Milieus, das Bedürfnis nach Rechtfertigung für das Mitmachen wie für die Sezession, jenes für ein tieferes Verständnis unabdingbare Insiderwissen dessen, der dabei und doch nicht dabei gewesen ist. Auch die Dissidenten der sozialistischen Spätzeit sind »Ehemalige sui generis«. Sie, die 1989 überrollt, zur Seite geräumt, ignoriert wurden, hatten alles gesehen: den Aufstieg der Angepassten an ihnen vorbei, den Zusammenbruch großer Hoffnungen, Selbstmorde, vorzeitige Tode, die Auflösung und die Neuformierung der Umbruchzeit.
Die Form, in der ich meine Betrachtungen anstelle, sind weniger weltgeschichtliche Betrachtungen, sondern eher Langzeitbetrachtungen vor Ort, Messungen, vorgenommen von einem, der immer wieder an bestimmte Punkte, neuralgische Punkte, Messstellen zurückkehrt und so den Grad der Veränderungen notiert. Die Messungen sind selektiv-exemplarisch, nicht allumfassend; sie sind punktuell, nicht flächendeckend; sie haben immer einen Ort und sind nicht ortlos-universal; sie interessieren aber als Welt im Kleinen, als Mikrokosmos, und nicht als bloß lokal-provinziale Begebenheit. Aus solchen Messungen, die nun schon ein Leben lang angestellt werden, ergibt sich, alles zusammengenommen, eine Neuvermessung des Geländes, des Raumes, in dem wir leben. Vielen ist das alles zu klein und zu wenig, aber manchmal ist weniger mehr. Zu diesem immer wieder durchmessenen Feld gehören: Städte als Kristallisationspunkte, die sich über 40 Jahre hin in ihrer Physiognomie, ihrer Stimmung, ihrer Bewohnerschaft, ihrem Stil, ihrem Tempo, ihren Verkehrsformen ändern. Dazu würden gehören: Straßen, Verkehrswege, Verkehrsmittel in ihrer Verlangsamung oder Beschleunigung, die Veränderung der Zusammensetzung der Reisenden oder der transportierten Güter. Dazu würden gehören die Programme von Theatern und Opernhäusern, das Sortiment in Läden und Supermärkten, die Analyse von Reiserouten und Urlaubsplanungen, die Umwälzung von Interieuren und der Einbruch neuer brands in eine bisher geschlossene Welt.
Daraus setzt sich eine analytische Matrix zusammen, die wenig mit dem zu tun hat, worauf sich der Diskurs der politischen Einschätzungen in der Regel bezieht. Dieser hat etwas eng Umschränktes, was man schon an den immer gleichen, immer wiederkehrenden Personen der immer wiederkehrenden Talkshows ablesen kann, in denen die Erfahrungen zirkuliert werden, die eben in den einschlägigen Korridoren gemacht werden. Das Gegenteil zu diesem Diskurs ist nicht der exotische Insider, der »Experte«, der ein Land oder eine Szene gut kennt, der aus seiner Szenekenntnis selber eine Art Fachidiotentum gemacht hat. Eher schon ist er oder sie einem Ethnologen vergleichbar, der dabei ist und gleichzeitig auf Distanz bleibt, der über ein Zeitbudget verfügt, das ihm erlaubt, sich auf Begehungen einzulassen, die nichts mit dem Rhythmus von Konferenzen, Erscheinungsdaten und dead-lines von Redaktionen zu tun haben. Sein Medium ist nicht so sehr der Leitartikel, sondern die Reportage, der Bericht aus einer Welt, die wir nicht von vornherein kennen und in die einzudringen viel Zeit und Kraft kostet.
Aus dieser Perspektive ergeben sich Einsichten, aber auch Verzerrungen. Gestützt auf die Langzeitbeobachtungen, ergibt sich ein gewisses Vertrauen, das sich aus dem Wissen um Kraftströme und Akkumulationsprozesse speist und das man nicht gewinnen kann, wenn man sich auf das hastige Gestikulieren und Agitieren im tagespolitischen Geschiebe verlässt.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Mein Bezugspunkt ist nicht der Finanzcrash von 2008, sondern 1989 oder genauer: die 20 Jahre zwischen der Abwicklung Ost und der Abwicklung West. Die Auflösung des alten Zustandes begann 1989 im Osten und hat jetzt auch den Westen
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