Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Nacht für Nacht, in unaufgeregter und unspektakulärer Routine und Verlässlichkeit, unabhängig von politischen Stimmungen, Wahlkämpfen und Legislaturperioden: transnational, europäisch, in millionenfachen molekularen Bewegungen. Es sind die Kriechströme, die Europas Motor in Gang halten. Kaum einer der bisherigen Preisträger hätte das mit mehr Berechtigung sagen können als zum Beispiel Eurolines.
(2011)
Messungen
Beobachtungen eines Europäers
von gestern
Für die nach 1989 Geborenen existiert der Problemhorizont, aus dem heraus ein Ehemaliger analysiert, gar nicht mehr – dafür ein ganz anderer.
Es ist seltsam, dass es bis heute keine Physiognomik, keine Typologie des Ehemaligen gibt. Wir haben Untersuchungen über die geistige Physiognomie des Verräters, des Agenten, des Kollaborateurs, des Spions, des Mitläufers, des Flüchtlings, des Emigranten, des Renegaten. Es gibt ganze Porträt- und Bildergalerien repräsentativer Figuren. Dort sind die Typen gezeichnet, die charakteristischen Umrisse, Attribute usf.
Besonders reich ist das 20. Jahrhundert an Ehemaligen. Mit jedem Bruch, mit jeder Zäsur, mit jedem Epochenende werden ganze Generationen zur Seite geschleudert, sie sind aus dem Rennen geworfen, sie können nicht mehr mithalten – oder sie werden einfach überrollt, aus ihren Positionen entfernt und gesäubert und fristen von nun an ein Leben am Rande des weltbewegenden Geschehens. In der Weltgeschichte gibt es die Ehemaligen: als Griechenland aufhörte, das Zentrum der Welt zu sein, und zur Peripherie Roms wurde – glückliche Zeit der Reflexion, der Entspannung und der kulturellen Blüte; als Rom selber zur Weide für die Ziegen und Gänse der Barbaren wurde; die Erben von Byzanz, die sich als Flüchtlinge nach Italien oder Moskowien gerettet hatten; die Maranen, die die Reconquista überlebt hatten; die Indigenen, die von den Weißen überwältigt wurden auf eigenem Territorium und von unten auf die Neue Welt blickten; die französischen Aristokraten, die in Koblenz und am Hof von Sankt Petersburg Zuflucht gefunden hatten, die wahren Repräsentanten des ancien régime und die Augenzeugen des ersten modernen Terrors, unschätzbare Augenzeugen, die ihr Maß genommen hatten an der Kultur des ancien régime ; die Besiegten der russischen Revolution – ob im Lande geblieben oder außer Landes gegangen und ausgewiesen, die Verfasser genauer Berichte über das, was sie umgab und das zu beschreiben ihnen möglich war, weil ihr Auge geschult war für die Differenz. Es ist kein Zufall, dass die »ehemaligen Menschen« – byvšie ljudi – in der russischen Geschichte ihre prägnanteste Ausformung gefunden haben.
Das Erkenntnisprivileg der Ehemaligen. Der Ehemalige hat eine spezifische Erkenntnisposition, vielleicht sogar ein Erkenntnisprivileg: Er gehört dazu und er gehört nicht (mehr) dazu. Er verfügt über Mit- und Geheimwissen, das ihm einen Erkenntnisvorsprung sichert vor allen, die erst später dazugestoßen sind. Er ist ein Eingeweihter. Er kennt die Akteure oft persönlich, er weiß, wie Milieus funktioniert und wie sie sich (bis zur Unkenntlichkeit) verwandelt haben. Er hat ein Geheimwissen, er kennt die Arcana wenn schon nicht des Imperiums, dann doch bestimmter Milieus. Er kennt die der Öffentlichkeit abgewandten Seiten der celebrities . Er ist in gewisser Weise derjenige, der die Weltgeschichte durch das Schlüsselloch betrachtet. Er kennt den Lärm der Zeit, das »Rauschen der Zeit« (Osip Mandelstam), und er kann daher die sukzessive Verfärbung, den Wandel des Tons, des Geräuschpegels, die Modifikation der Sitten und Verkehrsformen viel besser registrieren. Er ist ein Zeitzeuge sui generis: Er berichtet nicht einfach, was er gesehen hat, sondern bedenkt die Differenz mit, die zu jenen besteht, die auch – zeitgleich – mitgesehen, aber anders gesehen haben.
Zu den »Ehemaligen« gehören die Angehörigen der Intelligenzija des 19. Jahrhunderts als Vertreter der »Welt von gestern«. Dazu gehört beispielsweise der linke Revolutionär, der von der Oktoberrevolution überrollt und überholt wird und sie nun von unten oder von der Seite aus dem Erfahrungshorizont des Unterlegenen sieht und beurteilt. Der auf seine ehemaligen Genossen blickt, die an ihm vorbeigezogen sind, nun etwas geworden sind, während er abgeschlagen am Rande zurückbleibt. In dieser Position blüht freilich auch das Ressentiment, das Vorurteil, der Neid, der reichere und gerechtere Wahrnehmung erdrückt.
Weitere Kostenlose Bücher