Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
erreicht. Es gibt »den« Osten und »den« Westen nicht mehr. Eine Verschiebung der Kräfte und Koordinaten hat stattgefunden und ist noch immer nicht abgeschlossen. Innerhalb dieser weltgeschichtlichen Transformation, innerhalb dieser Turbulenzen hat sich Europa gut geschlagen. Europa hat den Übergang vom Ende des alten Zustands in den neuen im Großen und Ganzen mit Anstand bewältigt. Die große Entgleisung, der Sündenfall des neuen Europa war sein Versagen bei der Auflösung Jugoslawiens. Europa war nicht wach, nicht geistesgegenwärtig genug, um den Absturz Jugoslawiens in den Krieg zu verhindern. Und dennoch: Europa hat im Großen und Ganzen den »Prozess« bewältigt, die alte Grenze aufgelöst und einen neuen Raum geschaffen – politisch, kulturell, mental, geistig, institutionell. Europa heute ist ein neuer Erfahrungs- und Lebensraum, der nicht ideal ist, aber irgendwie halbwegs funktioniert. Viele haben daran einen Anteil: die Brüsseler Verwaltungen und die Spediteure, die Brückenbauer und die Erasmus-Studenten, die Firmengründer und die Arbeitsmigranten, die »polnische Putzfrau« und das Wissenschaftskolleg zu Berlin, die Fußball- EM und der Städtetourismus, EasyJet und das Schengen-Abkommen, die EU -Subventionen und die rumänische Altenpflegerin. Dieses neue, in den letzten zwei Jahrzehnten gewachsene Geflecht und Netzwerk aus Menschenströmen, Ideen und Gütern ist stark, viel stärker als alle Absichtserklärungen und Proklamationen. Man soll natürlich aus diesem »Europa von unten« keinen Fetisch und keine Ideologie machen, Übertreibungen rächen sich. Aber man muss auf diese Dinge hinweisen, weil sie Tatsachen sind und weil sie wirklich sind, auch wenn sie auf unserem »Radarschirm« in der Regel nicht auftauchen. Sichtbar und hörbar wird immer nur, was Krach und Lärm macht, wenn es zu einem großen Unglück und zu einem Zwischenfall gekommen ist. Von der Macht der Routinen und des Gewöhnlichen spricht man nicht oder erst dann, wenn diese Routinen unterbrochen, angehalten werden. Der Sinn meiner Darlegung kann nicht sein, ein Gegenbild zu entwerfen, eine (zweck)optimistische Version zu geben, ein Antidot zu verpassen gegen den allgemeinen Verdruss, sondern etwas auf die Karte unserer Wahrnehmung einzuzeichnen, um so ein genaueres Bild von den wirkenden Kräften zu gewinnen.
Bergamo. Von oberitalienischen Flughäfen wie Aviano flogen die Nato-Flugzeuge nach Belgrad und ins Kosovo, um ihre Bomben abzuwerfen, jetzt starten und landen andere Flugzeuge in Bergamo, das zugleich der Billigflughafen für Mailand und für ganz Norditalien geworden ist. Es ist Betrieb rund um die Uhr, denn Bergamo ist nicht nur eine der schönsten Städte Italiens, sondern ein Einkaufsparadies, in das man aus den englischen Midlands und aus Deutschland fliegen kann. Die Einkaufszentren sind gleich gegenüber der Ankunftshalle. Aber noch wichtiger sind die Destinationen, die man auf der Anzeigentafel lesen kann: mehrere Verbindungen nach Rumänien und in die Ukraine. Das besagt, dass ein regelrechter Pendelverkehr sich eingespielt hat zwischen den Regionen, die Arbeitskräfte im Überfluss haben, und den arbeitskräftehungrigen Industrieregionen des reichen italienischen Nordens. So geht es tagtäglich hin und her zwischen Bergamo und Lwiw/Lemberg, Kiew, Dnepropetrowsk und Timişoara und Cluj. Der italienische Norden funktioniert nur noch, weil seine Restaurants, Altenheime, Sanatorien – die Infrastruktur einer älter werdenden Gesellschaft – von dort versorgt werden. Neue Beziehungen und Lebenswelten entstehen über große Distanzen hinweg, die heute aber kein Problem mehr darstellen: mit Fernsehen, Kindern, die bei den Großeltern aufwachsen, beträchtlichen Geldtransfers, die neue Wohnviertel in der Bukowina oder in Transsilvanien entstehen lassen, der Bildung neuer communities und neuer gemischter Gesellschaften. Übrigens gibt es auch noch andere Verbindungen: nach Lourdes und nach Tel Aviv für fromme Wallfahrer und Pilger zur Muttergottes und ins Heilige Land. Diese Pendelbewegung über große Distanzen hinweg funktioniert zwischen vielen Regionen: Südostpolen und Rhein-Main, Pommern und Mittelengland, Ukraine und Ägäischen Inseln, Rumänien und der Gegend um Alicante. An ihr kann man Konjunkturen ablesen, Frequenzen, Verdichtungen und Auflösungsprozesse. Sie sagen etwas über die Normalisierung auf einem Kontinent, der sich nach dem Wegfall der Großen Grenze neu »aufstellt« und sich neu
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