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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wie am Strand von Varna oder Jalta. Europa ist freilich auch das feige und hilflose Wegsehen von Vukovar, Sarajewo und Grosny. Europa ist, wenn Räume gemeinsamer Erfahrung produziert werden und wenn Generationen anfangen, sich in Begriffen und in einer Sprache zu verständigen, in der es keine Übersetzungsprobleme gibt. Europa ist auch, wenn es Luxushotels mit einheitlichen Standards gibt. Europa ist, wenn es den Euro gibt und wenn man sich nicht zu helfen weiß, die großen Probleme des Alltags zu lösen: Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung, Abwehr der Fremden von draußen. Das heißt: Europa hat im Guten wie im Schlechten bereits mehr miteinander zu tun, als in Beschwörungsritualen und Zukunftsszenarien zugegeben wird. Es gibt mehr Anhaltspunkte für Europe in the making , als die Propheten wahrhaben wollen. Kassandra war nie eine gute Diagnostikerin. Sie hat es von Berufs wegen mit der Zukunft zu tun, die doch niemand kennt. In den Gemengelagen und Unübersichtlichkeiten der Gegenwart, die Ernst Bloch das »Dunkel des gelebten Augenblicks« genannt hat, hat sie nicht viel zu sagen. Real-Europa ist weiter als das Europa, das in den Lehrbüchern vorkommt. Real-Europa ist aufregender als alle Träume, die der Betrieb aus gegebenem Anlass veranstaltet.
Einen Karlspreis für Eurolines!
    Die großen Augenblicke, von denen die Geschichtsschreibung gewöhnlich handelt, sind ohne das molekulare Geschehen, das sie möglich macht, nicht denkbar. Und die Europäer, die berufsmäßig für Europa stehen und sprechen, sind gar nichts ohne die unbekannten Europäer, von denen nie die Rede ist. Wir alle kennen die Bühnen von Brüssel, Straßburg, Paris oder Maastricht, auf denen die »Repräsentanten Europas« agieren. Nicht genug, dass wir über alle ihre Auftritte und Verlautbarungen täglich auf dem Laufenden gehalten werden. Es sind immer dieselben Namen, dieselben Gesichter, dieselben Gesten. Eine Gruppe von Aachener Bürgern, Europäer der ersten Stunde, hat 1949 den Karlspreis für »Persönlichkeiten, die den Gedanken der abendländischen Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung gefördert haben«, begründet. In der Liste der seit 1950 Geehrten finden sich mehr oder weniger alle großen Europäer von Graf Coudenhove-Kalergi bis Václav Havel, von Jean Monnet bis zum Euro. Man kann diese Linie und diese Liste unschwer und ohne größeren Aufwand an Phantasie weiterführen. Aber man könnte den Preis auch an jene Akteure verleihen, ohne die jenes Europa, das nach 1989 gewachsen ist, gewiss nicht zustande gekommen wäre. Anwärter auf diese Verdienste gibt es nicht wenige: die Verkehrsminister und ihre Ingenieure, die die Brücken, Straßen und Eisenbahnlinien gebaut haben, die die Wege ins neue Europa geebnet und die Europäer einander nähergebracht haben. In Frage kommen die Spediteure und Logistiker, die sich berufsmäßig mit der Verkürzung von Entfernungen und mit der Herstellung von Nachbarschaft befasst haben. Es dürften die Reiseunternehmer und Begründer von Billigfluglinien nicht fehlen, die die Landkarte Europas in unseren Köpfen radikal verändert haben, so dass wir jetzt nicht nur wissen, wo Palermo, sondern auch Tallinn liegt, nicht nur Lissabon, sondern Riga und Odessa. Sie haben dazu beigetragen, dass sich Pendelbewegungen zwischen dem Rhein-Main-Gebiet und Galizien, zwischen Warschau und den englischen Midlands, zwischen Lemberg und Neapel herausgebildet haben. Die Billigfluglinien haben Berlin zu einer Nachbarstadt von Moskau werden lassen und tragen zur Steigerung von Weltläufigkeit bei. Krakau hat jetzt Anschluss an Dublin. Ganze Volkswirtschaften funktionieren ohne diesen Pendelverkehr nicht mehr. Die Renovierung von Wohnungen, die Pflege von Alten und Gebrechlichen in Städten auch weitab der Grenze liegt bereits in den Händen von über die Grenze pendelndem Personal. Die Aachener Findungskommission für den künftigen Karlspreis könnte sich von der Preiswürdigkeit eines solchen Kandidaten leicht ein Bild machen, indem sie sich die Fahrpläne, Preislisten und Buchungsverfahren der einschlägigen Unternehmen ansieht. Sie würde feststellen, dass es keinen Ort in Europa gibt, der nicht sogleich aufzurufen ist. Jede Recherche wird zu einer lustvollen virtuellen Reise ins neue Europa. Aber der Beruf solcher Unternehmen wie Eurolines ist nicht die Phantasiereise, sondern die Reise in ein Europa, das wirklich ist. Eurolines macht das seit vielen Jahren, Tag für Tag,

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