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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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neutral wie das Lateinische einst. Es ist die dritte Sprache, in der die Europäer alles, was sie auf dem Kontinent entzweit, jenseits allen Verdachts, verhandeln können.
    Stau, Verkehrskollaps. Autos haben, so die allgemeine Volksweisheit, nichts mit Kultur zu tun. Dass aber Freiheit, auch die Freiheit der Fortbewegung, der Grenzüberschreitung, etwas mit Mobilität und folglich etwas mit dem heute wichtigsten Medium der Fortbewegung, dem Auto, zu tun hat, ist nie so richtig thematisiert worden. Die Karriere des Autos, der Übergang vom öffentlichen zum privaten und individuellen Verkehr in den ehemaligen Ostblockländern ist ein Zugewinn an Unabhängigkeit, Freiheit, Bewegungsfreiheit. Man muss daraus keinen Fetisch und keine Gratispropaganda für die Autokonzerne machen, und vor allem darf man – selber Automobilist – nicht auf die anderen herabblicken, die sich den Komfort der unabhängigen und störungsfreien Fortbewegung endlich erlauben können. Die allgemeine Automobilisierung drückt einen Zuwachs an Mobilität und Unabhängigkeit aus, ist eine Form von Individualisierung, Ingrediens jeder Form bürgerlichen Lebens. Eine verhockte Gesellschaft, die sich nicht vom Fleck bewegen kann, verfügt auch nicht über einen öffentlichen Raum. An der Evolution der Verkehrsformen kann man auch die Evolution der Umgangs- und politischen Verkehrsformen messen. Wer im öffentlichen Verkehr nicht Rücksicht nehmen kann, nimmt erst recht im politischen Verkehr keine Rücksicht. Die Einhaltung von Spielregeln, die Beachtung von Vorfahrt, die Respektierung von Links- und Rechtsabbiegen – wo wird es im Alltag intensiver und zuweilen an der Grenze von Leben und Tod geübt, wenn nicht im Straßenverkehr? Die Kultur des Straßenverkehrs, das Sich-Einüben sagt etwas über die Kultur der Rücksichtnahme. Die Entfesselung des Straßenverkehrs und seine Nichtbändigung in postsozialistischen Megalopolen wie Moskau ist ein ziemlich genauer Indikator für den Zusammenbruch aller Regeln und ein Hinweis auf die mangelnde Fähigkeit der Selbstorganisation, der Selbstgesetzgebung, d.h. der Autonomie der Gesellschaft, die letztlich an den Rand der Funktionsfähigkeit, an den Kollaps geführt wird.
    Wege der Aufklärung. Städtereisen. Die Aufklärung geht ihre eigenen, manchmal kaum erkennbaren Wege, Schleichwege eher als Königswege und Hauptstraßen. Oft vermag die unerklärte Aufklärung ebenso viel wie die selbsternannte. An den Litfaßsäulen in Berlin oder München oder Frankfurt sieht man Plakate, die Reklame für die baltische Küste, für den Jugendstil in Riga oder die Altstadt von Tallinn machen. Turkish Airlines will uns die antiken Stätten Kleinasiens vorführen und das spanische Reisebüro den Zauber der Alhambra. Eine halbseitige Anzeige von Ryanair gibt uns Basisinformationen über Galizien, weil eine neue Destination eröffnet wird: Rzezsów an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Aufklärung sitzt überall: in den Kartenwerken der Fluglinien und Broschüren im Flugzeug, natürlich in den Reisebüros, schon aus professionellen Gründen, in den Zügen der Deutschen Bahn, die uns über den Reiz von Danzig, die Bäder in Budapest und die Sehenswürdigkeiten von Prag informiert – oft mit allen wichtigen Grundinformationen: Hotels, Verbindungen, Homepages, Stadtplan, Kulturprogramm und Ausführungen zu Kneipen und Nachtleben. Dank Internet wissen die Reisenden schon im Voraus, wo sie ankommen. Sie kennen sich aus, sie wissen, wo die besten Restaurants, die aufregendsten Klubs zu finden sind. So wird ein kultureller Raum produziert, in dem es eigentlich keine Grenzen mehr gibt, die Verfertigung einer europäischen Städtelandschaft, in der man sich wie selbstverständlich bewegt. Die Europäer fliegen nicht nur nach Phuket oder auf die Malediven, sondern sie haben die Abenteuer der Nähe entdeckt – den ungeheuren Reichtum und die Schönheit ihres eigenen Kontinents.
    Berlin-Breslau. Man könnte verzweifeln. Seit Jahren wird an der Bahnstrecke gebaut, aber es geht kaum vorwärts. Es dauert immer noch fünf bis sechs Stunden von Berlin nach Wrocław/Breslau, für eine Strecke, die vor dem Krieg schon einmal in knapp drei Stunden zurückgelegt wurde. Die Europäische Union hat transeuropäische Verkehrskorridore definiert, die eindrucksvoll einen neuen Verkehrsraum suggerieren – zu Wasser, zu Lande und in der Luft. An manchen Stellen geht es rasch, an vielen Stellen stockt es. Allenthalben merkt man, dass die vom

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