Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
konstituiert.
Busbahnhof München-Hackerbrücke. Jeder kann seine Probe machen und in seiner Stadt testen, in welchem Netz er sich befindet. Die Karte Europas wird neu gezeichnet, und die kräftigsten Akteure bei der Erstellung einer neuen Topographie – erst im Verkehrsraum, dann auch auf der mentalen Karte – sind die Speditions- und Busunternehmen. Sie machen Schlagzeilen, wenn wieder einmal ein übermüdeter Chauffeur einen Bus auf die Gegenfahrbahn gesteuert hat und eine Heimreise nach Polen in einem entsetzlichen Crash endet. Aber von den Abertausenden, Hunderttausenden, die Tag für Tag unterwegs sind und ganz und gar vom Funktionieren dieser Verbindungen abhängen, ist kaum die Rede. Jeder kann es ausprobieren: am ZOB Berlin am Funkturm, am Dortmunder Hauptbahnhof oder am neuen Busbahnhof in München. Dort treffen aufeinander die Angehörigen der Donauschwaben und die Ukrainer, die mit dem Bus über Breslau nach Lemberg fahren, die Besucher der Passionsspiele in Oberammergau und der Musikverein, der seinen Jahresausflug nach Prag hier unterbricht. Es sind keine exotischen Verbindungen, sondern Alltagsverbindungen, aufgebaut und genutzt von gewöhnlichen Leuten.
Europameisterschaften, Eurovision Song Contest. Nicht nur Brüssel ist Europa, sondern Europa gibt es mittlerweile täglich und überall. Die »Kulturhauptstädte Europas« – zwischen Istanbul und Ruhrgebiet, Hermannstadt und Vilnius – sind nicht bloß Subventionsmaschinerien zur Entwicklung des Tourismus und der Infrastruktur, sondern es passiert dort etwas. Man kann es leicht sehen an der Vielfalt der Events auf europäischer Ebene, ob Europameisterschaften oder Eurovision Song Contest zwischen Sopot und Baku. Europa ist eine Bühne mit Sängern, Orchestern und Zuschauern, die diese Bühne nutzen und auf ihr feiern. Europa ist nicht nur ein politisch-administrativer, nicht nur ein verkehrsmäßiger, nicht nur ein hochkultureller Raum – die Festivals von Athen und Bayreuth, von Bolschoi-Theater Moskau und La Scala Mailand –, sondern ein Event-Raum, der genutzt wird. Die Leute kamen aus Polen und aus England zur Love Parade im Berliner Tiergarten, sie fliegen jedes Wochenende ein, um sich in der Klubszene treiben zu lassen. Es gibt eine Europäizität des Alltags und des Feierns, nicht nur ein Europa der Festtags- und Sonntagsreden. Es gibt schöne und hässliche Europaerlebnisse, wenn Fussball gespielt wird und wenn die Fanklubs grenzüberschreitend die Stadien buchstäblich in Arenen verwandeln.
Gotthard-Tunnel. Es gibt noch große europäische Ereignisse, die Europa verändern werden, nicht im Rhythmus von Legislaturperioden, sondern in Generationenspannen. Die Untertunnelung der Alpen ist solch ein Ereignis von europäischem Rang. Fast wird eine Naturgeschichte, ein Panorama, das die Europäer seit Hunderten von Jahren verinnerlicht hatten, außer Kraft gesetzt, das Privileg der Passstraße entwertet durch diesen Tunnel, ein Meisterwerk der Logistik und Ingenieurkunst, das Europa verändern wird. Es geht um mehr als nur den Zeitgewinn von einer Stunde zwischen Zürich und Mailand. Es ist Verdichtung, Veränderung einer geostrategischen Position im Herzen Europas mit gewiss weitreichenden Folgen für unser Bild von der Schweiz, für unsere Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühen, für die Grundstückspreise jenseits der Alpen und für vieles mehr.
Erasmus. Die peregrinatio academica muss nicht neu erfunden werden. Es gibt sie seit dem hohen Mittelalter, zwischen der Sorbonne und Padua, zwischen Salamanca und Krakau. Aber das Erasmus-Programm für Studenten ist eine neue Weise, Europaerfahrungen zu machen, den Wechsel zwischen den Universitäten zum Bestandteil des gewöhnlichen Curriculums für alle zu machen. Ein Jahr an einer ausländischen Universität zu studieren ist für viele zum Alltag geworden, unabhängig davon, ob alle auch etwas daraus für sich machen. Europa ist dadurch klein geworden, zu einem Studien- und Lernort, innerhalb dessen man zirkuliert oder zirkuliert wird. Es deutet sich an, dass Mehr- und Vielsprachigkeit etwas ist, was reell werden kann, und dass die Sprachkundigkeit der Marktfrauen von Lemberg, die schon vor 100 Jahren in mindestens fünf Sprachen sich ausdrücken konnten, kein unerreichbares Vorbild bleiben muss. Es ist ein ungeheurer Gewinn, wenn die jungen Leute heute von Anfang an zwei Sprachen erlernen und das Englische zur lingua franca geworden ist, zur dritten Sprache, so unverdächtig
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