Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
an die Menschen freiwillig nie oder nur mit entsprechenden Gratifikationen gegangen wären: an den Kältepol von Magadan, um Gold zu fördern, nach Norilsk, wo Nickel abgebaut wurde, nach Workuta, wo Kohle jenseits des Polarkreises gefördert wurde, zu den Kanalbauten mit ihren riesigen Arbeits-Besserungslagern, in denen ebenfalls sozialistische Wettbewerbe organisiert wurden und wo Bestarbeiter mitunter mit Urkunden ausgezeichnet wurden. Arbeit wurde hier – in der Propaganda wenigstens – als Mittel der »Umschmiedung« ( perekowka ) gedacht, auch wenn die Menschen zu Zehn-, ja Hunderttausenden zugrunde gingen.
Die Sklavenarbeit war ein fester Bestandteil der Stalinschen Industrialisierung – auch noch nach dem Tod des Diktators 1953. Unvermeidlicherweise trug Arbeit den Stempel der Unfreiwilligkeit, des Zwangs. Mit der Rückkehr der in den 1950er Jahren aus den Lagern entlassenen Zwangsarbeiter kehrte auch diese Erfahrung in die Welt der »normalen Sowjetmenschen« zurück. Wenn man davon ausgeht, dass Zwangsarbeit die Erfahrung von vielen Millionen Menschen war und von zwei bis drei Generationen, dann wird klar, dass sie auch der »freien Arbeit« ihren Stempel aufgeprägt hat.
Vom großen Versprechen zur
»Ökonomie der Verantwortungslosigkeit«
Noch ein weiterer Aspekt ist von größter Bedeutung. Propagandistisch waren ja alle Bürger der Sowjetunion Eigentümer, handelte es sich dem Namen nach doch um Volkseigentum. Doch in Wahrheit hatten die Beschäftigten wenig zu sagen. Die allgemeine Haltung war wohl eher: Wenn alles allen gehört, dann gehört es in Wahrheit niemanden. Also ist man auch nicht verantwortlich. Dies führte nicht nur zu einem gleichgültigen, ja verschwenderischen Umgang mit dem Eigentum in Form von Produktionsanlagen und Produkten, sondern auch zu massenhaftem Diebstahl: Wenn alles allen gehört, kann man sich daran auch bedienen. Es gab zwar immer wieder Verurteilungen wegen »asozialen Verhaltens«, Prozesse von Kameradschaftsgerichten, aber viel gravierender war die allgemein gewordene Gleichgültigkeit, die der DDR -Dissident Rudolf Bahro in seiner scharfsinnigen Analyse »Die Alternative« seinerzeit als »Ökonomie der Verantwortungslosigkeit« bezeichnet hat.
Die spannende Frage ist, wie ein solches System überhaupt so lange Zeit funktionieren konnte. Zuerst war es gewiss das Versprechen, aus der schlimmsten Not herauszukommen und ein ersprießliches Leben wenigstens für die Kinder zu ermöglichen. Dieser Enthusiasmus der späten 1920er Jahre, der 1930er Jahre trug sicher eine Weile. Nach dem schrecklichen Krieg ging es dann darum, das Land wieder aufzubauen. In der Zeit nach Stalin aber konnte man nicht mehr auf die terroristischen Methoden und die pure Propaganda zurückgreifen. Stalins Nachfolger setzten auf materielle Anreize, eine verbesserte Ausbildung, einen weniger autoritären Arbeits- und Leitungsstil, vor allem aber auf ein verbessertes Angebot an Konsumgütern, Urlaubsreisen usf. Das trug noch gut zwei Jahrzehnte. Im Wettstreit der Systeme ab den frühen 1970er Jahren konnten die Sowjetunion und der ganze Ostblock dann endgültig nicht mehr mithalten. Es kamen die Jahre der Stagnation unter Breschnew, Jahre der Agonie, während die übrige Welt im Schatten der Energiekrise in die postindustrielle Epoche überging und mit der Informations- und Kommunikationsrevolution alle Verhältnisse unterminierte.
Wie könnte man die Folgen der sowjetischen Modernisierungsbemühungen zusammenfassend charakterisieren? In vieler Hinsicht entsprachen sie den Bedürfnissen eines Entwicklungslandes im Aufbruch – einer »Entwicklungs-« oder »Erziehungsdiktatur« – und hatten für eine gewisse Zeit auch messbare Erfolge vorzuweisen (Bildung, Alphabetisierung, Industrialisierung, Aufbau einer Militär- und Verteidigungsmaschinerie u.a.). Aufs Ganze gesehen führte sie die Sowjetunion jedoch in eine Sackgasse. Die leistungsfähigsten Elemente wurden ausgeschieden, verfolgt, vernichtet. Neben dem sozialen Aufstieg, den das neue Regime Hunderttausenden eröffnet hatte, war auch ein Prozess der negativen Selektion in Gang gesetzt worden. Die autoritären Kommandostrukturen funktionierten unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes – Krise, Krieg, Evakuierung der gesamten Wirtschaft aus den westlichen Gebieten –, zerstörten aber die Entwicklung einer organischen, von stummen Routinen getragenen Arbeitskultur, die auf Ruhe, Offenheit, Selbstdisziplin und Innovation angewiesen
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