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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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– auch in Stalins Zeiten hieß das perestrojka – waren die aus dem Boden gestampften neuen Industriesiedlungen. Die Gewerkschaften der Arbeiter hatten schon lange nichts mehr zu sagen, es galt das diktatorische Wort der »roten Direktoren«, die Arbeit war nach militärischen Gesichtspunkten organisiert: als Schlacht zum Sieg über die Natur und über die russische Trägheit, als sozialistischer Wettbewerb, in dem die Arbeitskollektive gegeneinander antraten.
    Immer wieder wurde die Arbeitszeit umgestellt, bald war es die Fünftagewoche, bald die Zehntagewoche. Millionen von Bauern, die noch nie eine Maschine gesehen hatten, die nicht lesen und schreiben konnten, waren in den Produktionsprozess zu integrieren. Die Verhältnisse in den Fabriken, einschließlich der Wohn- und Lebensverhältnisse, werden als unvorstellbar chaotisch beschrieben. In der Hektik der Kampagnen – Arbeit als Sturmarbeit, sturmowschtschina – war an einen geordneten Ablauf der Arbeitsvorgänge, an die Einhaltung von Disziplin gar nicht zu denken. Die Folge waren Serien von Unfällen, Zusammenbrüchen, Havarien, die aber nicht auf Mängel der Arbeitsorganisation zurückgeführt wurden, sondern auf Agenten, Spione, Schädlinge, die aufgespürt, in Kritik-Kampagnen entlarvt und verurteilt wurden – auf dem Höhepunkt des Großen Terrors 1937/38 wurde fast eine Million Menschen planmäßig getötet.
    Abgesehen von den entsetzlichen Menschenverlusten in den »großen Säuberungen« muss die Zerrüttung einer normalen Arbeitsroutine, die Durchsetzung eines kampagnenförmigen, ja militarisierten Arbeitsstils als eine der wichtigsten negativen Langzeitfolgen für die sowjetische Industriekultur angesehen werden. Es kamen aber noch andere Aspekte hinzu. Geheimniskrämerei, Spionomanie, Risikoscheu, mangelndes Verantwortungsgefühl für das Ganze. Spitzenleistungen in der Grundlagenforschung und im militärischen Sektor wurden durch die Schaffung hochdotierter Sonderlager für Wissenschaftler – die Scharaschka – gesichert. Solschenizyn, selber Insasse eines solchen Sonderlagers, hat darüber in seinem Roman »Der erste Kreis der Hölle« geschrieben.
    All diese Anstrengungen konnten den innovations- und fortschrittshemmenden Charakter der sowjetischen Produktionsorganisation nicht ungeschehen machen. Trotz großer Leistungen in einzelnen Bereichen – Weltraumtechnik, Kybernetik, Atomphysik – war das sowjetische System zur Stagnation verurteilt. Bestimmte Züge begleiteten das sowjetische System bis zu dessen Ende: die »Einmanndiktatur« der roten Fabrikdirektoren; die Neigung der Arbeiter, die ja keine Gewerkschaftsorganisationen mehr hatten, die im Notfall für sie eintraten, den Betrieb zu wechseln; der Absentismus der Arbeiter und die Wanderung von Betrieb zu Betrieb, die zu einem chronischen Zug des sowjetischen Arbeitslebens wurde. Die Planwirtschaft mit ihren künstlich überzogenen Kennziffern förderte eine Kultur fiktiver Leistungen, Ergebnisse, die nur auf dem Papier standen, die die Arbeit »als ob« einschlossen – tufta –, die Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität der Produktion und die alleinige Orientierung auf Tonnen – »Tonnenideologie« –, die Gleichgültigkeit gegenüber den wirklichen Bedürfnissen – im Winter werden Sommersachen geliefert, im Sommer aber Wintersachen.
    Auch auf Seiten des Managements wurden dadurch Praktiken befördert, die irrational, unökonomisch und letztlich unfinanzierbar waren. Weil die Direktoren unbedingt ihre Planvorgaben einhalten mussten, horteten sie für alle Fälle sowohl Material wie auch Arbeitskräfte, um sie im Notfall einsetzen zu können. Die Verschwendung von Ressourcen war somit bereits in das System eingebaut. Die Arbeiter, die keine formellen Vertretungsorgane hatten, verstanden es aber, ihre Macht gezielt einzusetzen: Sie drohten damit, den Betrieb zu verlassen oder – wenn Streik schon verboten und mit schweren Sanktionen belegt war – in einen »italienischen Streik« überzugehen, d.h. langsam zu arbeiten und so die Betriebsleitung zu erpressen. 2
Zwangsarbeit als Urerfahrung
    Von einem Aspekt war bei alledem noch gar nicht die Rede, der aber unbedingt dazugehört: dass ein großer Teil der gesellschaftlichen Arbeit jahrzehntelang und generationenübergreifend unfreie Arbeit war, Gefangenen- und Sklavenarbeit. Auf allen großen Baustellen der UdSSR waren Deportierte, Verbannte, Lagerinsassen im Einsatz. Der Gulag war ein Imperium der Zwangsarbeit an Orten,

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