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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wir heute leben, und nicht nur eine Zukunft, für die wir uns aufopfern müssen; es geht nicht immer nur um Heldentaten und große Visionen, von denen die sowjetische Geschichte mit ihren Megaprojekten gekennzeichnet ist, sondern um die kleinen Dinge des Alltags. Die Ankunft in der Banalität ist ein für viele enttäuschender Vorgang, der aber in Wahrheit die Ankunft auf dem Boden der Wirklichkeit und der Gegenwart bedeutet. Sie besagt nicht weniger als dies: Es muss auch in Russland möglich sein, dass man für seine Arbeit anständig entlohnt wird, und es muss auch in Russland möglich sein, Güter des alltäglichen Bedarfs zu kaufen, ohne dass man stundenlang in der Schlange steht; es muss möglich sein, eine Reise anzutreten, ohne dass man Wochen vorher seine Fahrkarte, in der Schlange stehend, erwirbt; es muss auch in Russland möglich sein, einen schönen Urlaub zu verbringen – nicht nur auf den Kanarischen Inseln, die preiswerter sind als eine Fahrt auf der Wolga oder an die Schwarzmeerküste. Die Verteidigung dieser Normalität ist in meinen Augen so wichtig wie die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte, und es zeigt sich, dass die angestrebte Normalität nur zu verteidigen ist, wenn die Menschen nicht schutzlos der Willkür der Macht ausgeliefert sind.
    Der Konflikt zwischen dem Interesse der vielen und dem Interesse der wuchernden Bürokratie und Oligarchie – und sie ist exorbitant gewachsen in den letzten zehn bis 20 Jahren – tritt nicht nur und nicht in erster Linie bei Wahlen zutage, sondern in den kleinen Scharmützeln des Alltags. Beispiele sind: die Demonstranten in Wladiwostok und Kaliningrad gegen die Erhöhung der Einfuhrzölle für Autos, die Proteste der Moskauer gegen die Raserei und Privilegierung der Prominentenautos, die Wut auf die Willkür der Verkehrspolizei ( GAI ) und auf die Miliz, auf Beamte, die sich alle Dienste bezahlen lassen, auf eine Regierung, die uninteressiert und unfähig ist, die Bürger zu schützen und Vorsorge zu treffen in elementaren Bedrohungssituationen, Proteste gegen die Abrissorgien in Moskau und Petersburg, gegen Spekulation und wilde Bautätigkeit in Datschengegenden, gegen das Abholzen von Wäldern (so zuletzt die Kundgebung der 3000 auf dem Moskauer Puschkin-Platz), gegen das Verheizen von jungen Männern in einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist. Misstrauen und Hoffnungslosigkeit andererseits drücken sich aus in »Abstimmungen mit den Füßen«, in der Auswanderung von mehr als einer Million zur Mittelschicht gehörenden, meist hochqualifizierten Bürgern und indem Geld aus Russland herausgeschafft wird – für den Fall des Falles. Symbolisch für die Unfähigkeit, ja den mangelnden Willen der staatlichen Macht, sich für die Belange der Bürger einzusetzen, waren die Flucht Juri Luschkows, des ehemaligen Bürgermeisters von Moskau, aus der von Feuer und Rauch eingeschlossenen Hauptstadt und seine hanebüchene Begründung; aber auch Putins Selbstinszenierung der Macht am Steuer eines Löschflugzeuges – im Angesicht der Brände, die Russlands Wälder heimsuchten. Man muss fürchten, dass die Staatsmacht und ihre Repräsentanten bei dem Versuch, die Verantwortung von sich abzuwälzen, weiterhin Sündenböcke suchen und finden werden, auf die der Unmut und der Hass der Bevölkerung abgelenkt werden sollen. Dass dies ein gefährliches und kurzsichtiges Spiel ist, muss nicht besonders betont werden.
Die Dekadenz des anstrengungslosen Wohlstands
    Russland braucht heute vor allem Ruhe und Zeit, um sich »neu aufzustellen«. Die Vorstellung, dass man im Handumdrehen und in Schockverfahren eine neue Beziehung zu Eigentum und Besitz erzeugen, neue Arbeitsformen und einen neuen Arbeitsstil entwickeln kann, ist naiv. Die großen privaten Reichtümer im heutigen Russland sind nicht durch die Arbeit von Generationen entstanden, sondern über Nacht, durch den Zerfall des Staatsmonopols und den handstreichartigen Zugriff am rechten Ort und zur rechten Zeit. Die Frage ist, ob sich seither eine eigene Unternehmenskultur entwickelt hat, eine neue Verantwortlichkeit für persönliches Eigentum und für das Gemeinwesen. Ich sehe das nicht, sondern eher eine phantastische Kombinatorik im Ausnutzen von Möglichkeiten und eine Maßlosigkeit der Ambition, die etwas mit Ahnungslosigkeit zu tun hat, der auf die Stirn geschrieben steht, dass sie von den Mühen der Ebene, dem Sich-Emporarbeiten und dem Sich-Erarbeiten-Müssen noch nie eine Vorstellung gehabt hat.

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