Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Die Verächtlichkeit, mit der die großen Oligarchen und Bürokraten auf die kleinen und kleinbürgerlichen Mittelständler, die in Russland Geschäfte machen – auch auf die ausländischen –, herabblicken, spricht Bände über die Geisteshaltung der nouveaux riches und einer parasitären Bürokratie. Die Art, wie sie ihr Geld ausgeben, sagt auch etwas darüber aus, wie sie es verdient haben, nämlich leicht, mühelos, über Nacht, handstreichartig. Dass es dabei auch große und kreative Unternehmergestalten gibt, die das Zeug haben, Russland im 21. Jahrhundert umzukrempeln, ist unübersehbar. Aber wie der Fall Chodorkowski zeigt, steckt man self-made men dieses Kalibers eher ins Gefängnis, als sie zum Zug kommen zu lassen. Dass die russische »Elite« inzwischen vom Trainingsanzug zum himbeerfarbenen Sakko und von diesem zum Brioni-Anzug übergegangen ist – eine Plenarsitzung der russischen Duma ist heute eine einzige Modenschau vor allem italienischer Herrenausstatter –, sagt nur sehr wenig darüber aus, ob sie tatsächlich etwas vom bürgerlichen Unternehmer klassischen Zuschnitts an sich hat.
Der große Wandel, der daher bis heute fällig ist, lässt sich nicht im Hauruckverfahren bewerkstelligen. Ruhe und Zeit – das würde bedeuten, das Regime der Willkür und Unberechenbarkeit abzustellen, die Öffentlichkeit von Verfahren und Entscheidungen zu gewährleisten, die Verantwortung auf viele Schultern zu verteilen und Entscheidungen zu dezentralisieren, anzuerkennen, dass das große Russland aus vielen Regionen und Landschaften besteht und nicht nur aus einer Hauptstadt. Nicht um ein abstraktes Programm der Demokratie umzusetzen, sondern weil es ohne rule of law keine Ruhe und Stabilität geben wird, die notwendig sind für die weitere Entwicklung. Das würde auch bedeuten, von Imponiergehabe und der Inszenierung sinnloser Prestigeprojekte – international und national – abzulassen (wie etwa die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi) und sich auf die ganz gewöhnlichen »Hausaufgaben« zu konzentrieren: Brücken bauen, Straßen bauen, Infrastrukturen instand setzen, die Transsib modernisieren, einen modernen Tourismus auf die Beine stellen, Verfahrenssicherheit garantieren, das Land in Ordnung bringen. Um Russland zu einem wohlhabenden Land zu machen, in dem man ganz normal leben kann, müsste man das Imperium und seine Träume hinter sich lassen. Aber das ist auch 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion noch immer ziemlich schwer.
(2010)
»Vechi« 1909–2009 – ein Jahrhundertbuch
Das Jahr 2009 wird uns Zeitgenossen nicht nur als Jahr des großen Finanzcrashs in Erinnerung bleiben, sondern auch als Jahr der Erinnerungen: Europa erinnert sich des Ausbruchs der Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren, des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und – als ein erfreulicheres Datum – der großen Wende von 1989, mit der eine ganze Epoche zu Ende ging. Auch kleinere Daten haben im europäischen Erinnerungskalender ihren Platz. So wurde im Februar dieses Jahres in vielen europäischen Zeitungen der Publikation des »Futuristischen Manifests« vor 100 Jahren gedacht. Fast zeitgleich – ebenfalls im Februar 1909 – erschien in Russland ein Buch, das in der russländischen Geistesgeschichte eine markante Spur hinterlassen hat, das aber im europäischen Kontext ignoriert wird, ja nicht einmal existiert, wenn man von Spezialisten für russländische Geschichte absieht. Die Publikation des Sammelbandes »Wegzeichen« mit Aufsätzen über die russische Intelligenz war ein unerhörtes Ereignis im geistigen Leben Russlands, nicht nur in den Hauptstädten. Der Band, von damals schon bekannten Philosophen, Publizisten, Politikern verfasst, erlebte in kürzester Zeit mehrere Ausgaben in hohen Auflagen, vor allem aber wurde er zum Zentrum einer leidenschaftlich geführten Debatte, an der alles, was damals Rang und Namen hatte, teilnahm. Darin ging es auf den ersten Blick um eine selbstkritische Einschätzung der Rolle der Intelligenz in der russischen Revolution von 1905, die gerade zu Ende gekommen war. Die Publikation der »Vechi« und die um sie entfachte Kontroverse war das stärkste Indiz für die Geburt einer unabhängig und reif gewordenen Intelligenz im späten Zarenreich. Die »Vechi« und die Kontroverse um sie dokumentieren die Geburt einer autonomen Öffentlichkeit und dessen, was wir heute als Zivilgesellschaft bezeichnen.
Für die Initiative, anlässlich des 100. Jahrestages der Publikation der
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