Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
war. Die dadurch ausgelöste Stagnation war auch durch materielle Anreize nicht mehr zu überwinden. So dämmerte das System seinem Ende entgegen. Es brach am Ende fast lautlos zusammen und löste sich am 21. Dezember 1991 als Union auf.
Die Langzeitfolgen der sowjetischen Modernisierung
Wie aber kann man jenes Land beschreiben, das sich nach 1991 zwischen Niedergang und Aufbruch bewegte? Das – historisch präzedenzlos – alle Aufgaben auf einmal zu bewältigen hatte: den Umbau der politischen Institutionen, der Eigentumsformen, der Art des Wirtschaftens, den Wandel der Mentalität, des way of life .
Es ist für mich erstaunlich und bis heute nicht wirklich erklärt, dass das Ende der Sowjetunion ohne Armageddon, ohne den »großen Knall«, auf den fast alle innerlich fixiert waren, vonstattengegangen ist. 3 Das Land setzte sich in einem atemberaubenden Tempo – wenn man die Veränderungen in den Städten, in den Lebens- und Konsumgewohnheiten betrachtet – in Bewegung, und zugleich trat es auf der Stelle – wenn man von der Schaffung neuer Infrastrukturen oder Institutionen spricht. Daraus ergibt sich der Eindruck extremer Widersprüchlichkeit, der Eindruck, dass alles offen ist und jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren kann. Wir können aber auch davon ausgehen, dass die Bevölkerung der Russländischen Föderation heute vor allem in Ruhe leben und in Ruhe gelassen werden will – nach einem Jahrhundert größter Anstrengungen, ja Überanstrengungen, nach zwei Jahrzehnten, in denen sie staatlichen Kollaps, Geldentwertung und Krisen, eine wahre Achterbahnfahrt zwischen Abstürzen und Aufschwüngen hinter sich gebracht hat. Wahrscheinlich kann es daher gar kein Allheilmittel und kein Rezept gegen die russische Krise geben, schon gar nicht von Leuten, die von draußen kommen. Man kann nur auf den Überlebenswillen, die Improvisations- und Lernfähigkeit, die Ingeniosität der Menschen setzen, vielleicht auch auf das Verantwortungsgefühl dessen, was man als »politische Elite« bezeichnet.
Offensichtlich hat sich noch nicht das politische Personal gefunden, das dem Ernst der Lage ins Gesicht blickt und den Mut hat, es auszusprechen. Das würde eine Führung voraussetzen, die dem Volk vertraut, weil sie weiß, dass sie ohne die aktive Beteiligung der Bevölkerung die anstehenden Probleme nicht lösen kann. Schon bisher gilt: Die wahren Helden bei der Verwandlung Russlands waren seine Bürger, die krisenerfahren und chaoskompetent mit schier ausweglosen Situationen zurechtgekommen sind, ohne in einen »Krieg aller gegen alle« abzugleiten. Die Vorstellung, dass man das riesige Land von einem zentralen Punkt aus regieren könnte, dass man nur die Machtvertikale stärken müsse, um das Land zusammenzuhalten, ist naiv – oder eben die Wahrnehmung aus dem beschränkten Blickwinkel eines Zentrums, das gewohnt ist, mehr auf Kontrolle und Überwachung zu setzen als auf Initiative und Tatkraft seiner Bürger. Doch ohne ein Vertrauen in die Tatkraft und Erfindungsgabe der Bevölkerung wird Russland nicht aus der Sackgasse herauskommen.
Die Probleme sind derart groß, dass jede Regierung, die nur auf Kontrolle und Befehle von oben setzt, zum Scheitern verurteilt ist. Der Ausbau, ja Neubau der moralisch und physisch verschlissenen Infrastruktur – des Verkehrssystems, der Kommunikation, der städtischen Dienste, des Krankenhaussystems – ist ein Jahrhundertprojekt, das die Umleitung gewaltiger Mittel in diesen Sektor verlangt. Hier handelt es sich um langfristige Investitionen, bei denen keine raschen Profite zu erzielen sind. Zu bewältigen ist der Strukturwandel von den alten Industrien zu den neuen – in einem Land, das bis in die jüngste Gegenwart von Stahl und Kohle geprägt war, mit Regionen, die sich ausnehmen wie ein einziger rust belt , ein gewaltiger Vorgang. Das Bildungswesen muss neu aufgebaut werden, um die besten Köpfe im Lande zu halten und die Flucht der Gehirne ins Ausland aufzuhalten. Der Hauptverbündete bei der Bewältigung dieser Aufgaben kann nur die Bevölkerung sein, die in den letzten Jahren trotz aller Turbulenzen eine Vorstellung davon bekommen hat, was es bedeuten könnte, in einem normalen Land zu leben – wenn man sie nur ließe.
Konsumrausch als Sehnsucht nach Normalität
Ich glaube, dass der Konsum, ja der Konsumrausch, der Russland erfasst hat, Ausdruck dieser Sehnsucht ist, endlich in einem normalen Land zu leben. Der Wille zum Konsum besagt: Es gibt eine Gegenwart, in der
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