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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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»Vechi« eine Veranstaltung und eine Ausstellung in der Russischen Nationalbibliothek zu organisieren, bin ich sehr dankbar. Ich freue mich darüber auch aus persönlichen Gründen. Ich habe vor mehr als 20 Jahren hier über den Diskurs um das Selbstverständnis der russischen Intelligenz zwischen 1909 und 1921 gearbeitet; daraus ist dann ein ganz anderes Buch geworden, nämlich eine Studie über Sankt Petersburg zwischen 1909 und 1921 als einem Laboratorium der europäischen Moderne; damals, in Lesesaal 1, wo Akademiemitglieder und ausländische Forscher einen privilegierten Zugang zur Literatur hatten, konnte ich mich mit der ganzen Literatur zu den »Vechi« vertraut machen. Im Anschluss daran habe ich im Jahre 1990 die »Vechi« für Hans Magnus Enzensbergers »Andere Bibliothek« übersetzt und mit einem Kommentar herausgegeben. Das Werk war in Deutschland schon einmal auszugsweise Anfang der 1920er Jahre in der Übersetzung von Elias Hurwicz erschienen. Außerdem gibt es eine amerikanische und französische Ausgabe. 1
    Seit meiner Arbeit in der damaligen Lenin-Bibliothek sind nicht nur 20 Jahre vergangen, sondern eine ganze Epoche. Ich erinnere mich noch an den Augenblick, da das in der Sowjetunion verbotene Buch in einer riesigen Auflage erstmals in die Buchhandlungen und in die Kioske kam und sofort ausverkauft war; und ich erinnere mich daran, dass das Buch, das wie alle verbotenen Früchte besonders kostbar war – die »Vechi«-Autoren waren die von Lenin bestgehassten Autoren des »bürgerlichen Liberalismus« –, plötzlich uninteressant geworden war und das Publikum sich anderen Gegenständen zuwandte: nicht so sehr der Vergangenheit, sondern der Gegenwart, nicht den Diskursen von gestern, sondern der neu entstandenen Öffentlichkeit, der aufregenden Presse, dem Fernsehen, dem explodierenden Buchmarkt. Warum soll man sich also heute den »Vechi« zuwenden?
    Es sind nicht in erster Linie persönlich-autobiographische Gründe, die mich dazu bringen, darüber zu sprechen; auch nicht eine antiquarische Leidenschaft, einen alten vergessenen Text noch einmal ans Licht zu holen, obwohl auch das legitim, ja reizvoll ist. Vielmehr ist es meine tiefe Überzeugung, dass es sich bei den »Vechi« wirklich um ein Jahrhundertbuch handelt. Wie kommt es, dass ein Buch, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle zentralen Fragen angesprochen wurden, die die Intelligenzija und das Schicksal Russlands betrafen, dennoch im Horizont der gebildeten europäischen Klassen kaum wahrgenommen wurde? Wie kommt es, dass die großen europäischen Kontroversen um die Intelligenzija nicht nur voneinander isoliert blieben, sondern sogar gegenläufig waren, zu zwei verschiedenen Sprachen, Ausdrucksweisen führten und in ein systematisches Missverstehen einmündeten? Oder noch kürzer: Was sind die Gründe, dass wir keine integrale Geschichte der europäischen Intelligenzija und ihrer Diskurse haben? Was bedeutet dies, und was würde eine Rekonstruktion der europäischen Intelligenzija-Geschichte bringen? Was wäre der Gewinn einer heutigen Lektüre der 100 Jahre alt gewordenen »Vechi«?
    Die Leistung der »Vechi«-Autoren bestand nicht in einer prophetischen Aussage über den kommenden Bolschewismus, wie oft behauptet, sondern in der Fähigkeit zu einer kritischen Bestandsaufnahme, in ihrer Diagnose der geistigen Situation der Zeit. Aus den »Vechi« von damals lassen sich auch keine direkten Handlungsanweisungen für heute ableiten. Die »Vechi« stehen keineswegs isoliert da, sondern gehören zu den großen europäischen Intelligenzija-Debatten des 20. Jahrhunderts. Aber wie kam es, dass die europäischen Intelligenzija-Debatten voneinander isoliert blieben, und wie könnte man zu einer integrierten europäischen Intelligenzija-Geschichte kommen? Abschließend ist die Frage zu stellen, inwiefern uns auch heute die »Vechi« etwas sagen können. Bei alldem sehe ich mich als Historiker der Intellektuellen- und Geistesgeschichte und nicht als jemand, der der russischen Intelligenzija heute Ratschläge von außen erteilen könnte.
Die Leistung der »Vechi«:
Diagnose der geistigen Situation der Zeit
    Über den Sammelband »Vechi« sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Ihre Autoren sind gefeiert worden für den Mut und den Scharfsinn, mit dem sie gegen die vorherrschende Strömung des Zeitgeistes die Kritik an der revolutionären Intelligenz formuliert hatten, und aus denselben Gründen wurden sie diffamiert als Apologeten des

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