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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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mit dem Oktobermanifest von 1905 inauguriert worden sei. Die Intelligenzija solle ihre Revolutionsrhetorik und Phrasendrescherei aufgeben, mit ihren radikalen Vereinfachungen Schluss machen und sich an die Arbeit machen. Eine Umkehr – metanoia – sei notwendig, um aus einem Abgleiten in pure Destruktion herauszukommen. So weit ganz kurz die meines Erachtens wichtigsten Aspekte.
    Die Autoren der »Vechi« hatten kein positives Programm; das war ihre Schwäche. Auch sparten sie die russisch-orthodoxe Kirche von ihrer Kritik aus, obwohl diese nicht bereit war, sich ihren gesellschaftlichen Pflichten zu stellen und die notwendigen Schritte einer Modernisierung einzuleiten, die zum Beispiel Sergei Bulgakow gefordert hatte. Die Stärke der »Vechi«-Position bestand darin, dass die Verfasser den Mut hatten, der Intelligenzija und sich selbst einen Spiegel vorzuhalten und gegen den Zeitgeist zu argumentieren. Sie forderten von sich und ihresgleichen, die Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen, anstatt die Verantwortung für das Scheitern der Revolution auf »die anderen«, »auf die da oben« abzuschieben. Das hat ihnen – die meisten von ihnen waren zuvor durch die Schule des legalen Marxismus gegangen – den Vorwurf des Renegatentums eingebracht. Sie gerieten praktisch zwischen alle Stühle, da sie sowohl das zaristische Regime als auch die revolutionäre Opposition kritisierten. Aber gerade in der Selbstbehauptung einer unabhängigen Position, dass sie dem Druck der öffentlichen Meinung nicht nachgaben, zeigten sie, dass eine unabhängige Öffentlichkeit entstanden war, ein Raum, der den Pressionen von beiden Seiten standhielt. Die Debatte von 1909 war eine Sternstunde in der Entstehung einer selbstbewussten und autonomen Öffentlichkeit im vorrevolutionären Russland.
    Diese Debatte ist von den nachfolgenden Ereignissen überholt worden und im Schatten der kommenden Ereignisse verschwunden: dem Ausbruch des Großen Krieges, der »Urkatastrophe«, 1914, der von ihr ausgelösten Revolution und dem Bürgerkrieg. Die Autoren wurden 1921/22 in einer spektakulären und bis dahin einzigartigen Aktion des Landes verwiesen. Die Sowjetregierung deportierte fast 200 führende Intellektuelle, darunter auch Autoren des »Vechi«-Bandes, auf dem sogenannten »Philosophenschiff« und schickte sie ins Exil, was für viele die Rettung ihres Lebens bedeutete. Ein singulärer, aber erst nach dem Ende der Sowjetunion wieder zum Bewusstsein gekommener Vorgang in der Geschichte der europäischen Intelligenz. 2
Kampf um Autonomie:
Die »Vechi« im europäischen Kontext
    Solche Momente des Innehaltens, der Selbstdiagnose und Selbstreflexion wie im Jahre 1909 hat es in Europa im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder – besonders in Krisenzeiten – gegeben. Ohne bereits eine vollständige oder systematische Übersicht zu geben, kann doch auf einige markante Stationen hingewiesen werden. Es ist nicht mehr als eine Tour d’horizon möglich. Jedes Land, jede Gesellschaft hat ihre eigenen Intelligenzija-Geschichten, aber vielleicht gibt es doch eine Reihe von Positionen und Diskursen, die über die Grenzen ausgestrahlt haben, eben weil die Probleme länderübergreifende gewesen sind.
    Am Anfang der europäischen Intelligenzgeschichte im 20. Jahrhundert dürfte die heroische Gestalt von Émile Zolas »J’accuse« stehen. In der Stellungnahme zur Dreyfus-Affäre in Frankreich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Polarisierung der Gesellschaft, bildete sich überhaupt die Gestalt des intellectuel heraus. Die Entschlossenheit und Courage, den nationalistischen und antisemitischen Ressentiments entgegenzutreten, hat gezeigt, dass Einzelne etwas zu bewirken vermögen; Zola und seine Mitstreiter haben geradezu den Mythos von der Macht der Intellektuellen begründet, von dessen Glanz die europäische Intelligenz noch Generationen später profitierte. Die Frage, wie man sich in der Dreyfus-Affäre verhalten würde, wurde zum Angelpunkt der Kontroverse um das Selbstverständnis und die »Mission« der Intelligenz, so wie in der Kontroverse um die »Vechi«, in der die russische Intelligenz zu klären versuchte, wie sie zu den revolutionären Ereignissen und zu ihrer Rolle darin stand. Ähnlich wie in der Dreyfus-Affäre ging es um eine rückhaltlose und schonungslose Selbstaufklärung. Soll es möglich sein, die Intelligenzija zu kritisieren, oder steht Kritik unter Verbot, weil sie den Gegnern in die Hände spielt? Darf man

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