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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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eine Revolution, die sich über weite Strecken als Pogrom herausgestellt hat, als Pogrom bezeichnen, oder soll man sich der revolutionären Phraseologie der Intelligenzija unterwerfen? Muss man nicht endlich Schluss machen mit der bequemen These, dass an allen Übeln »die da oben«, die Regierung, der Zarismus, die Selbstherrschaft schuldig seien, und einen Teil der Verantwortung für das Scheitern bei sich selbst suchen? Ähnlich wie in der Dreyfus-Affäre ging es – ganz unabhängig von dem konkret ganz verschieden gelagerten Konflikt – um eine rücksichtslose Selbstdiagnose und die Courage, die dazu nötig war. In Paris ging es darum, einem nationalistisch-antisemitisch gestimmten Mainstream zu widerstehen, in Petersburg und Moskau darum, einen Weg heraus aus dem Mainstream einer Selbstmythisierung und Apologie der Gewalt zu finden. 3
    Nur wenig später, 1914, im Sog der nationalen Mobilisierungen der Länder für den Großen Krieg, wird sich zeigen, dass die autonomen Intelligenzija-Positionen überrollt werden oder einfach zusammenbrechen: Der Kampf für den Frieden in Europa war zur Sache einer verschwindend kleinen Minorität, ja einer pazifistischen, mitunter militanten Sekte geworden, während sich der intellektuelle Mainstream in Europa an die Front begeben und in den »Kampf zur Verteidigung von Kultur und Zivilisation« stürzen wird – ein wahrer Zusammenbruch: fast überall in Europa im Jahre 1914 standen die Intellektuellen an der Spitze nationalistischer Mobilmachung.
    Es ist kein Wunder, dass die europäische Intelligenz bald darauf in einen ideologischen Katzenjammer verfällt und zur Abrechnung schreitet. Eine zweite markante Station ist daher die von Intellektuellen formulierte Anklage an die Adresse der Intelligenz. Nur zwei seien hier erwähnt: einerseits Georg Lukács 1923, der große Theoretiker einer marxistischen Ästhetik, der von seinesgleichen, den Intellektuellen aus bürgerlichem Hause, verlangt, »Klassenverrat« zu begehen und sich der Arbeiterbewegung anzuschließen, und andererseits Julien Benda 1927, der vom »trahison des clercs«, vom »Verrat der Intellektuellen«, spricht und die Rückkehr zu den absoluten Werten und Prinzipien einer universalen Moral fordert. Darin drückten sich die Auflösung der traditionellen Gewissheiten, die allgemeine Verunsicherung der Angehörigen der bürgerlichen Intelligenz, ihr »schlechtes Gewissen« angesichts der ungelösten Probleme der Gesellschaft aus. 4
    Als eine dritte Station könnte man die engagierten Intellektuellen ansehen, die vom Faschismus in Italien, vom Nationalsozialismus in Deutschland und vom spanischen Bürgerkrieg in eine Position getrieben wurden, in der sie im Namen des Antifaschismus für eine Koalition mit der Sowjetunion Stalins eintraten. Wie war es möglich, als Antifaschist seine intellektuelle und moralische Integrität zu bewahren, wenn man gleichzeitig die Schauprozesse in Kauf nahm und mit Stalin koalierte? In den Skandalen, die 1936 und 1937 um die Berichte André Gides und Lion Feuchtwangers von ihren Reisen in die UdSSR entbrannten, ging es eben auch um die Frage, wie autonom oder konformistisch Intellektuelle sind.
    Eine vierte Auseinandersetzung spielt bereits in einer neuen Konstellation: der des Kalten Krieges. Wie konnte hier eine Kritik des Kommunismus formuliert werden, die nicht zugleich als Apologie des Kapitalismus instrumentalisiert werden konnte, und wie konnte eine Kritik des Kapitalismus so formuliert werden, dass sie nicht der Rechtfertigung des kommunistischen Regimes dienen konnte? Große Texte und große Skandale sind Anfang der 1950er Jahre um die Textsammlung »Ein Gott, der keiner war«, an der Arthur Koestler und Ignazio Silone mitgewirkt hatten, aber auch um Czeslaw Milosz’ »Gefesseltes Denken« entbrannt. Die Frage war, wie eine kritische Position zwischen den Fronten des Kalten Krieges behauptet werden konnte, ohne dass sie von einer der beiden Seiten vereinnahmt werden konnte.
    Von einer neuen Welle des intellektuellen Avantgardismus kann man im Jahre 1968 sprechen. Das gilt sowohl für den westlichen wie für den östlichen Block. Es ist keine Frage, dass in der westlichen Studentenbewegung wie im Prager Frühling und im Warschauer März 1968 Studenten und Schriftsteller eine herausragende Rolle gespielt haben; auch für die entstehende Dissidentenbewegung und den Samizdat in der UdSSR gilt das. Und so finden wir eine neue Debatte um die Rolle der Intelligenz: etwa bei

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