Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
zaristischen Regimes. Lenin hat die Publikation immer wieder als »Enzyklopädie des liberalen Renegatentums« angegriffen, Trotzki hat die Autoren verspottet als Leute, die mit nichts anderem beschäftigt seien, als sich selbstverliebt und egomanisch »in jede Falte ihres Bewusstseins zu vertiefen«. Sie wurden als Propheten gefeiert, als Reaktionäre diffamiert oder lächerlich gemacht. Offensichtlich hatten sie einen Nerv der denkenden und gebildeten Gesellschaft getroffen. Ich habe hier nicht vor, mich in einer Definition des Begriffs Intelligenzija zu verlieren. Die Spannbreite dessen, was Intelligenzija in Europa bedeutet, ist überaus weit. Jedes Land hat offensichtlich einen eigenen Typus hervorgebracht: den intellectuel , den engagierten Intellektuellen in Frankreich, den »politischen Professor« in Deutschland, den »intelligenten« und revolutionären Studenten in Russland. Immer handelt es sich um mehr als nur um die Bildungsschicht. In der Semantik von Intelligenzija und Intellektuellen schwingt mit: Engagement, Kritik als Beruf, moralische Instanz und Autorität, Interesse und Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze. Intelligenzija und Intellektuelle haben je nach Kontext auch negative Konnotationen: etwa sich einzubilden, moralisch bessere Menschen zu sein. Gemeint sind damit in erster Linie Schriftsteller, Publizisten, Literaten, die öffentlich agieren. Am besten ist dies im Terminus des public intellectual zusammengefasst, dessen Stimme unüberhörbar ist. Und uns fallen dazu auch Namen aus der jüngeren Zeit ein: Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Noam Chomsky, Alexander Solschenizyn in Russland, Hans Magnus Enzensberger in Deutschland. Der Typus des public intellectual gehört einer sozialen Formation an, in der Kritik zum Beruf und intellektuelle Arbeit zu einer eigenen Profession werden konnte, weil es einen Markt der Ideen, der Buchproduktion, eine entsprechende Öffentlichkeit gab. Intelligenz gehört also im weitesten Sinne der modern-bürgerlichen Gesellschaft an.
Die Autoren, die den Sammelband »Wegzeichen« herausgegeben hatten, waren zu ihrer Zeit bereits erfahrene und angesehene Intellektuelle: Philosophen wie Nikolai Berdjajew, Sergei Bulgakow und Semjon Frank, Publizisten und Politiker wie Pjotr Struwe und Alexander Isgojew, ein Jurist wie Bogdan Kistjakowski und ein Literaturwissenschaftler wie Michail Gerschenson. Sie alle waren selber »Fleisch vom Fleisch der Intelligenzija«, hatten als Kritiker des Zarismus Verbannung und Exil hinter sich. Sie waren der Auffassung, dass nach dem Ende der Revolution von 1905 die Zeit gekommen war, selbstkritisch Bilanz zu ziehen. Die Autoren wollten kein Sündenregister zusammenstellen und kein Tribunal veranstalten, aber wiesen doch auf eine ihrer Meinung nach gravierende Fehlentwicklung hin: Die Intelligenzija mache jede intellektuelle und philosophische Mode mit, statt hart an sich zu arbeiten. Statt sich als selbsternannte Retter der Welt aufzuspielen, solle sie lieber bescheiden an sich selber arbeiten. Gefragt seien jetzt nicht »Opposition aus Prinzip«, sondern konstruktive organische Arbeit an der allmählichen Verbesserung der Verhältnisse. Dazu müsse die Intelligenzija sich frei machen von diversen von ihr selbst produzierten Mythen. Sie müsse aufhören, alles geistige Leben der Politik unterzuordnen. Jetzt komme es vor allem auf Selbsterziehung und Selbstvervollkommnung an, die Besserung der politischen Verhältnisse komme nicht von außen und schon gar nicht durch ein Wunder von oben, sondern allein von innen, von den Individuen. Die Intelligenzija solle sich frei machen von ihrer beschönigenden und mythischen Vorstellung vom Volk als den schönen Wilden und als Hort des Guten. Sie müsse sich von den Gewaltexzessen und Pogromen während der Revolution distanzieren. Auch Striche zu einem soziologischen Porträt werden beigesteuert: Es sei kein Zufall, dass der »revolutionäre Student« zur repräsentativen Gestalt des Intellektuellen in Russland geworden sei. Der Rechtswissenschaftler Kistjakowski kritisiert die unter der Intelligenzija herrschende Indifferenz gegenüber dem Recht – er spricht von Rechtsnihilismus –, und er liefert eine brillante Analyse Lenins als einem Theoretiker des Belagerungs- und Ausnahmezustandes. Wenn Russland eine »Zeit der Wirren« vermeiden und den Gefahren einer Depostie und Ochlokratie entgehen wolle, so Pjotr Struwe, bleibe keine andere Wahl als die Mitarbeit an dem Rechtsstaat, der
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