Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Herbert Marcuse, bei Jean-Paul Sartre, aber auch bei Alexander Solschenizyn und Andrei Sacharow in Moskau – hier wird übrigens in der Kritik der »Gebildeten« zum ersten Mal der »Vechi«-Band wieder zu einem Referenzpunkt.
Auch in der Vorbereitung der osteuropäischen Revolution, in der Zeit von Perestroika und Glasnost haben Intellektuelle eine große Rolle gespielt und sich darüber verständigt: Man denke hier nur an György Konráds und Iván Szelényis Traktat über die »Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht«, an Václav Havels »In der Wahrheit leben«, an die Revolution in Zeitung und Fernsehen in Moskau und an die Tatsache, dass ehemalige Dissidenten und Marginale plötzlich Minister, Präsidenten und politisches Führungspersonal wurden. Ganz sicher hätte es ohne die Bildung einer Gegenöffentlichkeit im Untergrund keine politische Umwälzung gegeben. Aber mit diesem Erfolg scheint die Mission der Intelligenz auch erledigt zu sein: Schon kurz nach 1989 und 1991 gibt es eine Literatur, die von der »Intellektuellendämmerung« und dem »Tod der Intelligenzija« spricht. 5
Darin manifestierte sich offensichtlich ein radikaler Bedeutungsverlust der Intelligenz in den postkommunistischen Gesellschaften. Mit einem Mal wurde die intellektuelle Hochkultur, die sich im Sozialismus herausgebildet hatte, konfrontiert mit der Produktion der kapitalistischen Massenkultur. Mit dem Verschwinden der staatlichen Zensur verschwand das traditionelle Feindbild. Die festen Orientierungen lösten sich auf. Neue Berufsprofile waren gefragt. Nicht mehr Status und gute Beziehungen, sondern Geld drückten die neue Wertordnung aus. Sich in dieser radikal veränderten Situation zurechtzufinden war überaus schwierig in allen postsozialistischen Gesellschaften. Aber das Gefühl der Krise und Orientierungslosigkeit ist nicht auf diese oder gar auf Russland beschränkt.
Die Rede von der »Krise der Intelligenz« in den 1990er Jahren ist kein spezifisch russisches Problem, die Vorwürfe und Selbstvorwürfe der Intelligenz, genauer: die public intellectuals sind ein allgemein europäisches Phänomen, das in bestimmten Konjunkturen immer wieder auftaucht. Es handelt sich dabei offensichtlich immer um Krisensituationen, die nach einer Erklärung und Revision verlangen, um Zeiten, in denen ein Bruch mit bisher geltenden Vorstellungen und Strategien angesagt ist. Es sind dies immer Zeiten gegenseitiger Entlarvung, der Heroisierung und Dämonisierung und eines Schwankens zwischen Selbstüberschätzung und Zusammenbruch jedes Selbstbewusstseins, der avantgardistischen Pose wie der fatalistischen Resignation. In diesem Spannungsverhältnis zwischen den Extremen bewegen sich Selbstanalyse und Selbstinterpretation.
Auch wenn klar ist, dass die verschiedenen soeben skizzierten Diskurse nicht unmittelbar miteinander verbunden sind; auch wenn klar ist, dass ihre Akteure nicht unmittelbar miteinander kommunizierten, so gibt es eben doch einen Zusammenhang: den europäischen Krisenzusammenhang im 20. Jahrhundert, vor allem die hochdramatische Epoche von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg zwischen 1914 und 1945 oder – wenn man die lange Nachkriegszeit miteinbezieht – das »kurze 20. Jahrhundert« zwischen 1914 und 1989.
Wenn man versuchen würde, einen roten Faden in all diesen Intelligenzdiskursen herauszuarbeiten, dann käme meiner Meinung nach die These zum Vorschein, dass die Intelligenzija eine ganz entscheidende Rolle für den Geschichtsverlauf spiele; dass die Intelligenzija über Eigenschaften wie Bildung und Opferbereitschaft verfüge, die sie dazu prädestinierten, eine große historische Mission zu erfüllen, oder aber dass sie – umgekehrt – wegen ihrer Arroganz, ihrer mangelnden Disziplin und ihres kleinbürgerlichen Verhaltens prinzipiell unfähig sei, etwas Positives zu bewirken.
In der Regel verweisen diese Anklagen und Selbstbezichtigungen auf eine vollständige Überschätzung des spezifischen Gewichtes der Intelligenz und der Intellektuellen, wiederholen nur die Illusion, sie seien dazu ermächtigt, Geschichte zu machen. Hier liegt offenbar buchstäblich eine déformation professionelle vor. Die großen Intelligenzija-Debatten drehen sich fast immer um diese Selbstillusionierung und Selbststilisierung. Die wirklichen historischen Entscheidungen werden freilich nicht von Intellektuellen getroffen. Das Hauptresultat der oben aufgezeigten Debatten ist der immer wieder neue Versuch, zu begreifen, welches Gewicht,
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