Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Institutionen sei am Ende, abgelöst von neuen Medien. Die Kultur scheint sich aufzulösen in Entertainment und Geschwätz. Die Unterscheidung zwischen virtuellen und wirklichen Welten scheint so schwierig geworden zu sein wie die zwischen finanziellen Blasen und Realwirtschaft. Und was muss passiert sein, dass nicht einmal die Experten des Finanz- und Wirtschaftsleben einem erklären können, was sich derzeit in Banken, Märkten, Börsen abspielt!
In solchen Augenblicken wächst die Not, die Erklärungsnot, aber auch die unmittelbare und elementare Not. Es wächst die Neigung zur Radikalisierung und zum kurzen Prozess, aber auch das Verstehen-Wollen und das Bedürfnis nach Aufklärung. So gibt es eine neue Militanz, die bereits um sich gegriffen hat, aber auch eine neue Nachdenklichkeit, dass es so nicht weitergehen kann. Es stellt sich heraus, dass sich die klassische Aufgabe der Aufklärung nicht erübrigt hat; es ist nicht so, dass alles gleich wahr ist, wie die Ideologen der Postmoderne und die Mythologen der Antimoderne propagiert haben, denn es gibt eine Geschichte, die sich erforschen lässt und die man unterscheiden kann von Mythen und Ideologien; es wird wieder klar, dass es durchaus eines Engagements und der Opferbereitschaft bedarf, wenn man ein Unglück vermeiden will; es gibt durchaus etwas, was auf dem Spiel steht und was verteidigenswert ist; alte Tugenden, über die man sich vor kurzem noch lustig gemacht hat, sind durchaus wieder gefragt. Es ist also wieder einmal Zeit, Bilanz zu ziehen, das ideologische Gepäck zu prüfen und gegebenenfalls abzuwerfen, wenn es nicht taugt. Es ist die Zeit der metanoia , der Umkehr, der Prüfung – und die neue Lektüre der »Vechi« könnte uns zeigen, wie ernst und radikal eine solche Selbstdiagnose und Selbstkritik sein kann. Wie diese konkret aussehen könnte, das nehmen uns die Autoren der »Vechi« von 1909 nicht ab, das müssen wir schon selber herausfinden.
(2009)
NEUE NARRATIVE FÜR EUROPA
M it dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs stürzten zwei Erfahrungshorizonte zusammen, die ein halbes Jahrhundert für sich existiert, ihre eigene Plausibilität und Schlüssigkeit besessen hatten. Ja, die Geschichte selbst wird in dem Augenblick, wo eine neue Wirklichkeit über die Menschen hereinbricht, auf den zweiten Platz verwiesen. Es kommt jetzt mehr auf Geistesgegenwart und Kenntnis des Hier und Jetzt an. Wenn es stimmt, was Goethe gesagt hatte, dass jede Generation die Geschichte neu schreiben wird, weil sie ihre eigenen Erfahrungen macht und ihre eigenen Fragen stellt, dann wird die Generation nach 1989, die herausgetreten ist aus dem geteilten Horizont, gewiss ihre eigene Erzählung entwickeln, nein: sie ist schon dabei, es zu tun. Das ist eine Herausforderung, so groß, dass eine ganze Generation sich daran verausgaben und daran scheitern kann: Es bedeutet, die heillosen und ineinander verwickelten Geschichten der Europäer zu rekonstruieren, sich einen Erfahrungshorizont zu vergegenwärtigen, der uns, den Nachgeborenen, und ihnen, den noch später Geborenen, verschlossen bleiben wird: eine Epoche, in der keine Katastrophe ausgespart blieb, eine Sequenz von Kriegen, Bürgerkriegen, ethnischen und sozialen »Säuberungen«, gipfelnd in der Ausrottung der europäischen Juden. Wie soll das je eine Generation, die von diesen Erfahrungen verschont geblieben war, in einer übergreifenden und integralen Erzählung einholen können! Vorerst bewegt sich Europa in der Erinnerung, ergeht sich an Erinnerungsorten, in die sich alle geschichtliche Erfahrung aufgelöst zu haben scheint, und scheut den Weg in die Geschichte, an der alles hart, tatsächlich, unwiderlegbar, nicht aushandelbar, nicht bloß subjektive Wahrnehmung ist, sondern nur eisige Objektivität geschichtlichen Geschehens, von dem nichts zurückgenommen oder wiedergutgemacht werden kann. Auf eine nun allzu lange schon dauernde Phase des Erinnerns und Gedenkens wird eine andere Arbeit folgen: die der Vergegenwärtigung und Konfrontation von Ereignissen und Erfahrungen, die sich noch lange nicht zu einem gesamteuropäischen Narrativ werden fügen lassen – wenn dies überhaupt je möglich ist. Es wird sich erweisen müssen, ob die Europäer, der vielstimmige europäische Chor, das, was sie sich zu erzählen haben, überhaupt werden ertragen und aushalten können.
Asymmetrien der Erfahrung,
Asymmetrien der Erinnerung
Wie gehen die Europäer auf ihrem wiedervereinigten Kontinent mit ihren geteilten und
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