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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wollen endlich in Ruhe gelassen werden, ein normales Leben führen, in dem die Kinder zur Schule gehen, man sein Geld verdienen und vielleicht in Urlaub fahren kann. Eine große Sehnsucht nach Normalität und Routine – nach einem »Jahrhundert der Extreme« (Eric Hobsbawm), der Schrecken und des Ausnahmezustandes. Es drängt sich auch keine Intelligenz vor, die die Gesellschaft belehren oder gar eine Erziehungsdiktatur errichten möchte. Eher sieht es derzeit so aus, als drängten sich Priester und Mullahs in den Vordergrund und als sei die Aufgabe, die früher von der Aufklärung bewältigt wurde, jetzt an die Entertainment-Industrie oder an die Prediger der Religionen übergegangen.
    Anderes scheint hingegen durchaus aktuell geblieben zu sein. Denken wir nur an Kistjakowskis luzide Analyse der Indifferenz und des Rechtsnihilismus, eines mangelnden Bewusstseins für die Notwendigkeit institutioneller Formen, in denen sich die Gesellschaft organisiert und artikulieren kann; oder denken wir an den Aufruf zur Notwendigkeit der alltäglichen Kleinarbeit, aus der sich das Leben der Zivilgesellschaft speist und aufbaut.
    Es ist nicht meine Aufgabe, und es übersteigt auch meine Zuständigkeit, die »geistige Situation der Zeit« für das heutige Russland zu analysieren und einen Kommentar zur heutigen geistigen Verfassung der russischen Intelligenzija abzugeben. Die Lage ist für mich unübersichtlich, schwierig einzuschätzen, ich fühle mich ratlos. Ich weiß nur, dass es momentan nicht eine Situation gibt, wie ich sie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kennengelernt hatte, als es eine frische und schonungslos offene Debatte über das Selbstverständnis und die Aufgaben der russländischen Intelligenz gegeben hat. Es war fast so etwas wie eine Wiederaufnahme, eine Weiterführung eines einmal abgebrochenen Diskurses, wenn ich an Igor Kljamkins Essay »Welche Straße führt zum Tempel« aus dem Jahre 1987 denke. 7 Das ist lange her, und die Lage hat sich vollständig geändert. Es gibt nicht mehr jene klare Scheidung und Gegenüberstellung von Regierung und Opposition, von Macht und Intelligenzija. Man findet beides: einen zum Massenphänomen gewordenen Zynismus, der sich in den Medien breitgemacht hat, und den tiefen Ernst und die Opferbereitschaft, jene alten Tugenden der russischen Intelligenzija, die wir im Antlitz der Anna Politkowskaja ablesen können. Die moderne Massenkultur mit allem, was dazugehört, hat auch das nachsowjetische Russland erreicht. Wie überall in der Welt interessieren sich die Massen nicht so sehr für schöne Literatur, sondern für sex and crime , die höchsten Auflagen haben nicht die Samizdat-Autoren von einst, sondern die Bestseller von heute. Wohin wir blicken: eine neue Unübersichtlichkeit, neue Möglichkeiten. Ein Leben im Augenblick und in der Gegenwart und nicht für die Zukunft. Konsumismus nicht Kommunismus ist angesagt. Vieles, was früher unerreichbar war, ist jetzt Normalität, und vieles, womit man einmal hat rechnen können, ist verschwunden. Man muss sich ganz neu zurechtfinden und sein Leben einrichten. Und auch der Westen, der einmal eine feste Größe war, ein Orientierungspunkt mit bestimmten universellen Werten, existiert so nicht mehr.
    Die Krise, die mit dem Verlust der festen Koordinaten, aber auch mit neuen Gefahren verbunden ist, hat längst auch den Westen erreicht. Wenn man sich umblickt, hat man den Eindruck, dass auch im Westen die großen public intellectuals aussterben, Fossile einer zu Ende gehenden Epoche. Auch hier gibt es einen Bedeutungs- und Statusverlust. Die Deutungsmacht bei der Interpretation des Weltgeschehens ist, so scheint es, übergegangen an round tables , talk shows und think tanks . Irgendwie haben sich die scharfen Konturen aufgelöst, anything goes . Die Postmoderne hat daraus sogar eine Ideologie gemacht. Eine große Leere und ein Gefühl der Sinnlosigkeit macht sich breit, die Einzigen, die zu wissen scheinen, was auf dem Spiel steht, sind die neuen Radikalen und die neuen Fundamentalismen, die Orientierung, Sicherheit, Zukunft versprechen. In der Tat: Es hat sich ein neuer »militanter Orden von Weltverbesserern« (Semjon Frank) gebildet, der bereit ist, sich selbst, sein eigenes Leben als Waffe einzusetzen und mit Selbstmordattentaten auf die Welt loszugehen. Schon lange geht die These vom Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit um. Die klassische bürgerliche Öffentlichkeit mit Zeitungen, Salons, öffentlichen Räumen und

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