Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
hat einen neuen Erfahrungsraum geöffnet. Die Koordinaten, in denen die Generationen nach dem Krieg aufgewachsen sind, haben sich grundlegend verändert. Es gab plötzlich kein Ost oder West mehr, sondern etwas dazwischen, das mittlere Europa. Städte, die jahrzehntelang unerreichbar waren, waren plötzlich in die Nachbarschaft gerückt. Städte und Landschaften, die man nur aus der Literatur, aus Filmen oder aus der familialen Erzählung kannte, waren mit einem Mal erreichbar. Man konnte sich darin bewegen und umsehen. Mit dieser Öffnung änderte sich fast alles: der Erfahrungsraum, der Aktionsradius, die Urlaubspläne und vielleicht sogar die Lebensplanung. Nun konnte man nach Prag und Krakau zum Studieren gehen, nicht nur nach Montpellier oder Oxford. Es sind die langfristigen, eher unmerklichen Veränderungen, die prägen: die Herausbildung von neuen Achsen zwischen den europäischen Zentren – so kommt es, dass über die alten nationalstaatlichen Grenzen längst andere Wege und Achsen hinwegführen, metropolitan corridors , Zonen der Hochgeschwindigkeit, von Hightech, Plastikgeld, Internet und einem way of life , der überall, wohin man kommt, identisch ist; dieses neue Europa wird zusammengehalten von Tag für Tag sich neu knüpfenden Netzwerken, in denen Güter, Menschen, Ideen zirkulieren, mächtige Kriechströme zwischen Rotterdam und Moskau, zwischen Malmö und Rom, an denen die Routinen des ganzen Kontinents hängen. Diese Korridore, diese Kriechströme, die über die alte Grenze hinwegführen, sind die wahren Säulen des europäischen Zusammenhalts. Man sollte die kulturellen Folgen dieser »Banalität des Alltags« nicht unterschätzen: Europa wird neu gemischt, es bekommt seine rumänische und ukrainische community in Neapel und Barcelona, seine Russen in Berlin und Stockholm, seine expat-communities in Prag und Moskau. Istanbul ist ganz unabhängig von irgendwelchen EU -Beitrittsverhandlungen eine europäische Metropole – man muss nur auf die Flughäfen gehen. Die Pendelbewegungen gehen längst über die Grenzen hinweg. An der Überwindung der alten Grenze arbeiten gewaltige Kräfte, man muss daher nicht pessimistisch sein. Die Karte, die da entsteht, hat nur noch wenig zu tun mit der Diercke-Schulwandkarte, mit der ich groß geworden bin: mit den verschieden kolorierten Nationalstaaten, den daumendick oder nur gestrichelt als provisorisch gekennzeichneten Grenzen Nachkriegseuropas. Die neue Karte erinnert mehr an die der frühen Neuzeit, an die Fernhandels- und Pilgerwege, an die Verbindungen zwischen heiligen Städten und Routen des Weltverkehrs. Peripherie und Zentrum, Ferne und Nachbarschaft – alles wird neu justiert. Auf dieser Karte des neuen Europa sind sogar die allerneuesten Schauplätze kommender clashes eingetragen: die Londoner Subway Station Tavistock Road, die Moskauer Metro, der Vorortbahnhof von Madrid-Antocha, wo die Bomben hochgegangen sind. Auf diesen neuesten Karten wird eingetragen, wo Europa am verwundbarsten und verletzlichsten ist – in den öffentlichen Räumen seiner Metropolen.
Asymmetrie der Wahrnehmung, Asymmetrie des Interesses. Bekanntlich gab es in dem, was bis 1989 Westeuropa hieß, keinen run nach Osten. Das Interesse war mäßig, sogar in einem einst geteilten Deutschland. Ganz anders im östlichen Europa. Dort hatte man sich schon immer mehr für das interessiert, was im Westen passierte: für Literatur, Ideen, Moden, vor allem aber: Freiheit. 1989 war nun die große Chance, sich selber umzusehen, und sie brachen auf, zu Millionen, zur Stippvisite, zur Bildungs- und Erkundungsreise, zum Studium, dann auch auf der Suche nach besserem Arbeitsverdienst. Das östliche Europa holte nach, was ihm so lange vorenthalten war: eine Explorationsbewegung größten Ausmaßes. Das kann man vom westlichen Europa – auch dies nur noch ein Hilfsbegriff – nicht sagen. Die Neugier hielt sich in Grenzen, zeitweilig überwogen sogar allerlei Befürchtungen (Ansturm von Arbeitssuchenden, Abwanderung der Industrien, wachsende Kriminalität usf.). Und doch blieb nichts, wie es war. Das erweiterte Europa ist nicht die alte » EU plus Beitrittsländer«, sondern ein Europa, das neu zusammengesetzt wird, das sich neu vergewissert und anfängt, sich von sich selbst ein neues Bild zu machen. Das neue Europa ist etwas anderes und mehr als nur die Addition von Ost- und Westeuropa.
Asymmetrie der Erinnerung. Langzeitfolgen der Teilung. Europa hat in der halbhundertjährigen Zeit seiner
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