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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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je spezifischen Erinnerungen um? Was bedeutet es insbesondere für die Deutschen, sich mit den Erinnerungen »der anderen« vertraut zu machen, und wie ist es um die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur bestellt? Ist so etwas wie ein europäischer Erinnerungsraum denkbar?
    Für eine Annäherung an das östliche Europa ist Leipzig ein guter Ort. Für die weiter aus dem Westen Kommenden ist die Stadt schon eine Station auf halber Strecke in das östliche Europa, auch wenn es mit den Zugverbindungen dorthin nicht so gut bestellt ist, wie man sich das vor 20 Jahren, als der Eiserne Vorhang verschwand, vielleicht erträumt hatte. Leipzig ist über 1000 Fäden mit dem östlichen Europa und seiner Geschichte verbunden – man denke nur an die Gründung seiner Universität, an den Verlauf der Fernhandelsstraßen, an deren Knotenpunkt die Messe entstand, aber auch an die Rolle der Messe in der Zeit des Kalten Krieges – jene Schleusenkammer, jener jährlich für einen Augenblick geöffnete Kontakthof zwischen den Hemisphären – und erst recht an die erneute Zuwendung des heutigen Leipzig, die zu einem Markenzeichen seiner Buchmesse und seiner Wissenschafts- und Forschungslandschaft geworden ist.
    So rasch geht die Zeit . Es ist fast unglaublich, dass 1989 schon 20 Jahre zurückliegt – das ist eine Generationenspanne. Es gibt Schüler und Studenten, die nach dem annus mirabilis geboren sind, für die das alles buchstäblich Vorgeschichte ist. Uns – wie auch immer wir dabei gewesen sein mögen – erscheint es wie gestern. Wer von uns erinnert sich noch daran, dass die U-Bahn in der Zeit, als wir in Westberlin studierten, Bahnhöfe passierte, die zugemauert waren und an denen Grenzer patrouillierten? Wer weiß überhaupt noch, wo die Mauer genau verlaufen ist? Und wer erinnert sich an einen Polenmarkt an der Stelle, wo heute der neue Potsdamer Platz ist, eine sandige Fläche mit abgestellten Wohnwagen und einer ins Nirgendwo führenden Magnetschwebebahn, Philharmonie und Staatsbibliothek wie Weltraumschiffe in einer Grenzlandschaft? Jeder kann Beispiele aus eigener Erfahrung beisteuern: Es gibt inzwischen polnische Studenten an der Viadrina, die – nach Solidarność geboren – sich nicht sonderlich dafür interessieren, die aber auch schon älter sind als die glitzernde Skyline von downtown Warschau. Es ist gerade 20 Jahre her, da gab es zum ersten Mal und unvergesslich öffentliche Debatten, in denen wirklich etwas verhandelt wurde, und Kundgebungen von Bürgern auf einem quasi-sakralen Platz, auf dem sonst nur Militärparaden stattgefunden hatten. Oder jener Augenblick: Ein Bürgermeister – Anatoli Sobtschak in Leningrad/Sankt Petersburg – sprach die Bewohner seiner Stadt erstmals mit »Meine Damen und Herren« an. Der Geist einer bürgerschaftlichen Revolution wehte durch das östliche Europa. Seither hat sich vieles wiederum geändert. Wir haben uns an den neuen Zustand schon so sehr gewöhnt, dass wir die lange Agonie, den kurzen Sommer der Anarchie vergessen haben. Vergessen auch, dass erstmals der Krieg wieder nach Europa zurückgekommen war.
    20 Jahre sind eine lange Zeit, aber auch eine kurze Zeit, wenn man von Langzeitgedächtnis, von longue durée spricht. Ihre Intervalle sind nicht die von Legislaturperioden, von Kanzlern und Kanzlerinnen, sondern eher von Generationen oder sogar Epochen. So wie sich im Jahre 1989 ganze Generationenhorizonte aufgelöst haben, so sind neue entstanden. Es wäre seltsam, wenn sich mit diesen fundamentalen Veränderungen nicht auch die Erinnerung, unsere Vorstellung von der Vergangenheit ändern würde. Es ist nichts Erschreckendes daran, sondern nur ein Beleg für die Lebendigkeit des Geschichtsbewusstseins, dass jede Generation sich aufs neue ein Bild macht von der Vergangenheit, neue Fragen an die Vergangenheit richtet, sich diese neu aneignet, ja neu aneignen muss.
    Die folgenden Betrachtungen stammen von jemandem, der 1968 und 1989 bewusst miterlebt hat, dessen prägende Erfahrung von Europa aber die der Grenze war. Ich rechne mich der Marienborn-Generation zu: Es sind jene, deren innere Landkarte von dieser Erfahrung geprägt worden ist: vom Zug, der angehalten und kontrolliert wird, wo die immer gleichen stupiden Fragen nach Sprengstoff und Schusswaffen gestellt wurden, wo Literatur beschlagnahmt wurde von Grenzbeamten, die selber gerne über die Grenze gefahren wären, wenn sie nur gekonnt hätten.
    Veränderte Koordinaten. Die Wende von 1989

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