Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Arendt.
Das Aneinander-Vorbeisehen und Aneinander-Vorbeireden hielt auch in der langen Nachkriegszeit an. Man kann fast von einer Berührungsangst zwischen der dissidentischen Intelligenz des Westens und den intellektuellen Dissidenten im Osten sprechen. Die kritische Intelligenz des Westens war antikapitalistisch, antiimperialistisch, antiamerikanisch, häufig prosowjetisch, die kritische Intelligenz im Osten war antikommunistisch, antisowjetisch, meist prowestlich. Die einen wie die anderen mochten in ihrer praktischen Lebenshaltung antiautoritär, egalitär, radikaldemokratisch eingestellt gewesen sein, ideologisch lebten sie in ganz verschiedenen Welten. Das war bis zum Ende des Kommunismus, des Ostblocks und der Teilung Europas so. Die Spuren dieser unterschiedlich gepolten Wahrnehmung wirken bis heute nach.
Heute, nachdem der Kalte Krieg Geschichte ist und möglicherweise nicht nur der Kommunismus, sondern auch der alte Westen der Vergangenheit angehört, ist vielleicht die Zeit gekommen, einen Blick zurück zu werfen auf die Diskurse der Intelligenzija im vergangenen Jahrhundert. Die ideologischen Schlachten sind geschlagen, worauf es jetzt ankommt, ist, die vielen und verschiedenen Geschichten intellektuellen Engagements, seiner Leistungen und seines Versagens zu erzählen. Es ist Zeit für die Historisierung eines bisher über die Maßen ideologisierten Komplexes. Man wird dann wahrscheinlich zu einer nüchternen Betrachtung kommen, jenseits von Selbstüberschätzungen und Mythisierungen, einer Gefahr, der die Intelligenzija in besonderer Weise ausgesetzt ist. Aber so wird es möglich sein, die bisher isolierten Enklaven und Archipele der versprengten Diaspora miteinander zu verbinden und den geistigen Ertrag zu bilanzieren. Der Diskurs der europäischen Intelligenz wäre damit integraler Bestandteil einer europäischen Geistesgeschichte, die aufgehört hat, eine bloß ideologische Geschichte zu sein. Wir werden dann mehr wissen über die Sündenfälle und die heroischen Taten, über die Gebrechen und die Tugenden, über die Arroganz und die Opferbereitschaft der Intelligenz – jenseits von Besserwisserei und jenseits von Rechthaberei.
Was bleibt: Illusionslosigkeit und Mut zur Selbstdiagnose – die Aktualität der »Vechi«
Nach 1989 und danach wurde viel von »Intellektuellendämmerung« und »Tod der Intelligenzija« geschrieben – im Osten, aber auch im Westen. Die Gründe dafür sind bekannt: der Status- und Bedeutungsverlust der Reflexionselite, das Ende der Deutungsmacht einer kleinen, gebildeten Elite, die Durchsetzung der Herrschaft des Geldes und der Vormarsch der Massenkultur. Die endgültige Abdankung der Intelligenzija scheint das vorläufig letzte Wort zu sein. 6
Doch wenn nicht alles täuscht, ist eine neue Suche nach einem Subjekt in Gang gekommen, das eine Veränderung tragen oder initiieren könnte. Angesichts von Krisen und Crash sucht man nach rettenden Auswegen, revolutionären Subjekten und spricht in einem neuen Ton von der Notwendigkeit der Aufklärung. Ein neues revolutionäres Subjekt oder ein archimedischer Punkt, von dem aus sich die Welt erklären oder gar verändern ließe, ist aber nicht in Sicht. Die Globalisierungskritiker Toni Negri und Michael Hardt haben von der »Menge« ( multitude ), die als Handlungsträger in Frage kommt, gesprochen. Andere fordern eine neue Aufklärung oder kritisieren die Intelligenz ebendeshalb, weil sie ihren eigentlichen Pflichten nicht nachkomme: nämlich zu erklären, was vor sich geht. Man hat sich inzwischen darauf eingerichtet, dass nach dem Ende des Kalten Krieges nicht ein Zeitalter des Friedens, sondern eine Epoche neuer Unübersichtlichkeit, des Chaos und einer außer Kontrolle geratenen Welt angebrochen ist. Überall schrillen die Alarmsirenen. Wieder einmal ist es »fünf Minuten vor zwölf«.
Was haben uns in einer solchen Situation die »Vechi« überhaupt zu sagen? Sind sie nicht einfach nur noch historische Texte, die man zu den Akten legen kann? In vieler Hinsicht sind sie tatsächlich nur noch von historischem Interesse – jedenfalls auf Russland bezogen. Es besteht nicht die Gefahr einer neuen Herrschaft der revolutionären Jugend, einer »Paidokratie«; die demographische Situation spricht heute eher vom Gegenteil, von Überalterung und Niedergang. Es gibt heute keine Kultur der Askese, ein »militanter Orden« von Intellektuellen ist nicht in Sicht. Niemand sehnt sich nach einem neuen utopischen Projekt. Die Leute
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