Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
welche Bedeutung und welcher Einfluss der Intelligenz oder den public intellectuals zukommt – oder nicht.
Das 20. Jahrhundert: Ein Krisenzusammenhang und die Ohnmacht der europäischen Intelligenz
Wenn man Intelligenz auch als »Reflexionselite« bezeichnet, dann hat man den Eindruck, dass sie im Europa der sich radikalisierenden Bewegungen, ob nationalistischer oder kommunistischer Provenienz, auf verlorenem Posten stand. Unter den Handlungszwängen und dem Aktions- und Entscheidungsdruck der geschichtlichen Ereignisse war Reflexion nicht gefragt, Reflexion war ein Hindernis, eine Einschränkung, eine Handlungsbeschränkung. Die Bewegungen und totalitären Regime, die aus ihnen hervorgegangen sind, brauchten keine reflektierende, sondern eine funktionierende, nicht eine selbständige, sondern eine dienende und exekutierende Intelligenz – »Rädchen und Schräubchen« oder Schriftsteller als »Ingenieure der menschlichen Seele«. So spalteten sich vielerorts die europäischen Intellektuellen in aktivistische Wortführer, Agitatoren und Propagandisten einerseits und Abgeschlagene, zur Seite Geworfene, Marginalisierte und Verfolgte andererseits. Es gibt nur wenige Fälle, wo Köpfe der Intelligenz sich an die Spitze von Bewegungen gesetzt und dort behauptet haben. Der Bolschewismus mit seinen aus der Intelligenzija kommenden Führern gehörte gewiss dazu, wenn auch nur vorübergehend – man denke nur an Köpfe wie Lenin, Trotzki, Lunatscharski, Bucharin und andere. Aber in der Regel war die große Zahl von Intellektuellen höchstens aktiv als Sympathisanten, Mitläufer ( poputschiki ), Marginale, und viele von ihnen fanden sich bald in der Emigration und im Exil wieder.
Die Intelligenzija-Geschichte im 20. Jahrhundert ist zwar auch die Geschichte atemberaubender Karrieren von Intelligenzija-Angehörigen, vor allem aber eine Geschichte der Ohnmacht und des Exils. Doch das Merkwürdige ist, dass die ins geschichtliche Abseits geratenen Reflexionseliten nicht zueinanderfanden, sich verfehlten. Ihre Wege kreuzten sich, aber sie begegneten sich nicht. Wir können dies entlang der oben vorgeführten Stationen zeigen.
Die Autoren der »Vechi« sind bekanntlich im Jahre 1921/22 auf dem »Philosophenschiff« gewaltsam aus der UdSSR ausgewiesen worden. Sie sind zu Trägern der russischen Intelligenzija-Kultur außerhalb Russlands geworden, aber mit einer Sympathie für ihre Ansichten konnten sie in der Regel nicht rechnen. Sie galten als die Repräsentanten des alten Russland, der Monarchie, der Orthodoxie, ja der Reaktion, und sie waren in der Regel in den Hauptstädten des Exils – in Berlin und in Paris – isoliert. Selbst spätere Exilanten – man denke an Victor Serge, aber auch an Trotzki – fanden kaum ein wohlgesinntes Umfeld vor. Denn große Teile der europäischen Intelligenz blickten mit großen Erwartungen und Sympathien nach Russland, das Russland der Oktoberrevolution erschien einer ganzen Generation von Intellektuellen als das zwar arme, aber gelobte Land, als Gegenpol zu einer verachteten und verhassten Welt der Ausbeutung, des Elends, der kulturellen Krise. Die berühmtesten Namen finden sich darunter – Romain Rolland, Arthur Koestler, Joseph Roth, André Gide, Walter Benjamin, George Bernard Shaw, John Steinbeck. Selbst in einem Augenblick, da nach 1933 in Paris die Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich eintrafen, kam es zu keiner Begegnung und zu keinem Gespräch über die Erfahrungen totalitärer Herrschaft. Es gab keine gemeinsame Sprache für die neuen Erfahrungen, und so kam es, dass die Emigranten und Exilanten Walter Benjamin und Nikolai Berdjajew, Lew Schestow und Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Iwan Bunin zwar in Paris Zuflucht gefunden hatten, aber es nicht zu einer intellektuellen Begegnung, zu einem Austausch kam. Daran hat sich im Wesentlichen auch in den Vereinigten Staaten nichts geändert. Pitirim Sorokin saß an der Harvard University, die deutschen intellektuellen Flüchtlinge saßen an der New School for Social Research oder – wie Thomas Mann, Max Horkheimer und Theodor Adorno – an der amerikanischen Westküste. Zu einer Begegnung und zu einer Reflexion der je verschiedenen, aber doch auch gemeinsamen Erfahrungen ist es nicht gekommen. Ausnahmen bestätigen hier wiederum die Regel – der Philosoph und Soziologe Waldemar Gurian, ein zum Katholizismus konvertierter russischer Jude, wurde zum Beispiel zu einem wichtigen Bezugspunkt für Hannah
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