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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Teilung verschiedene und unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wer welche Erfahrungen gemacht hat, verdankte sich den Zufällen der Geopolitik am Ende des Zweiten Weltkriegs. Europa hat sich sozial, politisch, kulturell, mental auseinanderentwickelt, so dass vieles heute als Innovation erscheint, was längst schon einmal Wirklichkeit war in der Zeit vor den Weltkriegen. Diese Unterschiedlichkeit der Erfahrung produziert unterschiedliche Zentren des geschichtlichen Interesses, eine unterschiedliche Perspektive, eine unterschiedliche Sensibilität für unterschiedliche Themen. Seltsam, wenn dem nicht so wäre. In der Wahrnehmung der jüngsten Vergangenheit gibt es andere Zäsuren mit anderen Bedeutungen. Welches Datum man auch nimmt, es knüpfen sich daran verschiedene Erfahrungen: Denken wir nur an 1918, 1937, 1938, 1939, 1941 oder 1945. Und für die Nachkriegszeit: Wie unterschiedlich werden die Daten von 1948, 1953, 1956, 1961, 1968, 1981, sogar 1989 erinnert! Mit jedem Datum ist eine spezielle Erfahrung und Perspektive verbunden. Diese unterschiedlichen Erfahrungen lassen sich nicht einfach und nach Wunsch in einem »gesamteuropäischen Narrativ« zusammenfassen.
    1989 und die Inkubationszeit. Das annus mirabilis ist gleichsam die Chiffre für die Wiederkehr des geschichtlichen Gedächtnisses, für die Wiedergewinnung der Sprache und für die Reformulierung der nationalen Narrative. Aber die Vorstellung vom annus mirabilis , in dem alles anders wurde, ja sogar die Rede von der »Wende« ist zu plakativ und nicht ganz zutreffend. Es gab keine Stunde null, sondern es eskalierte, was lange vorbereitet war. 1989 war Resultat einer langen Inkubationszeit, die wieder sehr unterschiedlich verlaufen ist in jedem »Ostblock«-Land. Jedes Land hatte seine eigene Erfahrung mit dem Kommunismus, ja seinen eigenen Nationalkommunismus, seine eigene Entstalinisierungserfahrung, eigene Kulminationspunkte, Persönlichkeiten und Milieus. Auch in dieser Hinsicht zeugen manche Belehrungen, die aus Deutschland zu hören sind, von Ahnungslosigkeit. Es gibt eine eigene Geschichte der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die älter ist als die »Wende«.
    Und doch: 1989 war auch die Zeit des Bildersturms und der gestürzten Denkmäler. Fast alle »historischen Augenblicke«, an denen diese Zeit so reich war und die uns wie nie zuvor live übermittelt worden sind, waren begleitet oder akzentuiert von Denkmälern, die gestürzt, und von Denkmälern, die neu errichtet worden sind. In Moskau hob ein Krupp-Kran mit Unterstützung von Bergsteigern Felix Dserschinskis Denkmal vor der Lubjanka vom Sockel, und wenig später wurde auf die nun geräumte Verkehrsinsel vor dem Gebäude, in dem nach wie vor der Geheimdienst residiert, ein Felsblock vom ersten Konzentrationslager der Sowjetunion, den Solowki-Inseln, aufgerichtet. Es fielen die Insignien der alten Macht, die Nationalhymnen, die Flaggen, und es wurden neue entworfen oder alte, vorrevolutionäre wieder eingeführt. Kathedralen, die im Bildersturm von einst in die Luft gejagt worden waren, wurden in Rekordzeit wiedererrichtet. Überall die Wiederkehr von Symbolen und Geistern, die man historisch für erledigt gehalten hatte.
    Die Archive, die Depots, in denen das Gedächtnis der Gesellschaft, der Nation gespeichert ist, wurden geöffnet. Eine Geschichtsarbeit, die bisher unter normalen Verhältnissen nur außerhalb des Landes, »im Westen«, hatte geleistet werden können, kam in Gang, mit einer Flut von Entdeckungen, Dokumentenpublikationen, Quelleneditionen, die niemand mehr zu stoppen in der Lage war. Die Opfer, um die sich bisher niemand gekümmert hatte, hatten nun endlich ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Physiognomie, ihre Würde zurückbekommen.
    Kurzum: Es entstand ein Raum, in dem sich die Normalisierung der geschichtlichen Erinnerung überhaupt erst vollziehen konnte. Es war die goldene Zeit der Reprints, die Zeit, in der eine Flut lange zurückgehaltener oder in den Schubladen liegender Erinnerungen losbrach, eine Zeit der Selbstentdeckung, Selbsterkundung und Selbstbeschreibung. Genres, die verschwunden und vertrocknet waren, entstanden neu: Biographien, Stadtbeschreibungen, Karten von Orten, über die es aus Geheimhaltungsgründen nie wahrheitsgemäße Karten gegeben hatte. Tote wurden exhumiert und umgebettet – so die Opfer der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 oder die im Exil gestorbenen Koryphäen russischer Kultur und Gelehrsamkeit. Eine Bewegung der

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