Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Restaurierung setzte ein: Palais und Kirchen, die zu Lagerhallen oder öffentlichen Toiletten geworden waren, wurden – oft im letzten Augenblick – wiederhergestellt.
Die Doppelerfahrung des östlichen und mittleren Europa als Erfahrungs- und Erkenntnisprivileg . Das östliche und mittlere Europa war der Hauptschauplatz der Weltkriegs- und Revolutionsepoche, des Dreißigjährigen Krieges und der mit ihm verbundenen und in vieler Hinsicht präzedenzlosen Gewaltentfaltung. Diese Region des Kontinents geriet zwischen die Hauptfronten des europäischen Bürgerkriegs, zwischen Nationalismus und Kommunismus, zwischen deutschen Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Es ist der Hauptschauplatz des Genozids an den europäischen Juden, einer systematischen sozialen und ethnischen Säuberungspolitik, das Aufmarschgelände der größten Kriegsmaschinen und der verbrannten Erde, großer erzwungener Bevölkerungs- und Fluchtbewegungen und einer Befreiung, die in vieler Hinsicht Ablösung der einen durch eine andere Fremdherrschaft war. Es gibt keinen Punkt auf der Landkarte dieser Region, keine Familie, keine Biographie, die nicht von dieser Doppelerfahrung gezeichnet waren. 1 Es handelt sich um die Kernzone des »Jahrhunderts der Extreme«. Diese Tatsache ist noch nicht überall in Europa angekommen. »Krieg ist Krieg, Besatzung ist Besatzung«, heißt es – aber zugleich stimmt: Es gibt verschiedene Kriege und Besatzungsregime, die nicht dieselben sind, es gibt Orte, aus denen es kein Entkommen mehr gab, in keine Richtung. Auf den mental maps der mittleren und östlichen Europäer finden sich Namen, die im Westen oft nur exotisch klingen – Trostinez, Solowki, Katyn, Vinnica, Babij Jar. Diese extrem verschiedenen Erfahrungen zusammenzudenken lässt sich nicht im Hauruckverfahren bewerkstelligen, sondern braucht Zeit. Es gibt kein Schema F für den Umgang mit der Geschichte, es gibt kein »deutsches Modell«, das manche gerne exportieren möchten, da es Situationen gibt, die ungleich komplizierter sind als der deutsche Fall.
Deutsche und sowjetische Herrschaft haben dafür gesorgt, dass alle Vorgänge heillos ineinander verwoben und verwirrt sind, dass die inneren Prozesse in diesen Ländern sich verbunden haben mit Interventionen von außen, so dass Ursache und Wirkung, Verantwortlichkeit und Schuld, der ganze Komplex der Zuständigkeit äußerst unübersichtlich und schwierig zu entscheiden ist. Es bedarf einer eigenen Sprache, um die Doppelerfahrung des Massenmordes am polnischen Offizierskorps im Wald von Katyn und die Vernichtungspolitik der deutschen Einsatzkommandos im Generalgouvernement zusammenzubringen. Dies gilt fast für alle anderen Staaten »dazwischen« auch. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Litauen, Lettland und Estland durch deutsche Einsatzkommandos und die Massendeportationen eines großen Prozentsatzes der Bevölkerung dieser Länder durch den sowjetischen NKWD gehören zusammen, und sie in einem Atemzug zu nennen gibt eine historische Erfahrung wieder, ist nicht Gleichsetzung und Verharmlosung und Apologetik – jedenfalls nicht von vornherein. Der Streit um die Beseitigung von Denkmälern für die Rote Armee in Lettland und Estland ist eine ungemein komplizierte Angelegenheit, so kompliziert, dass man sie am liebsten nicht berührt sehen möchte, weil die Zeit noch nicht reif ist und der Takt sich noch nicht ausgebildet hat, um allen darin Involvierten – den Soldaten der Roten Armee, die ihr Leben für die Befreiung von der deutschen Besatzung gegeben haben, und den Esten, die zum Opfer einer neuen Besetzung geworden sind – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mit einer Kultur der bedingten Reflexe ist hier gar nichts auszurichten. Man muss hier erst einmal zuhören und sich in eine Erfahrung vertiefen, bevor man Urteile abgibt und kurzen Prozess macht.
Ein zweites Beispiel für die unerhörte Kompliziertheit ist eine so lange kommunistische Herrschaftszeit wie die in der UdSSR , die ja immerhin mehrere Generationen betroffen hat. Hier wären zunächst die Sequenzen von Sterben und Tod, von denen meist keine Vorstellung herrscht, zu erwähnen: ein Erster Weltkrieg, dessen Opfer vergessen sind, weil sie immer im Schatten des folgenden Bürgerkrieges und der von ihm ausgelösten Hungersnöte gestanden hatten. Die Sequenz der Hunderttausende, ja Millionen von Toten, die im Verlauf der Kollektivierung und der Massendeportationen der sogenannten »Kulaken« ums Leben gekommen sind,
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