Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
nicht zuletzt jene halbe Million Menschen, die binnen eines knappen Jahres – während des Großen Terrors 1937 – umgebracht worden sind. Dies alles aber im Schatten einer Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, die rund 27 Millionen Menschenleben auf sowjetischem Territorium gefordert hat – gar nicht zu reden von der Hungersnot der ersten beiden Friedensjahre. Es gibt – trotz Alexander Solschenizyn und Wassili Grossman – keine Sprache, die all das auf einen Nenner bringen könnte. 2 Es hat für Jahrzehnte keinen Raum gegeben, in dem die Namen, die Schicksale, die Gesichter hätten gezeigt, zu Gehör gebracht werden können. Es gab viele Gründe für dieses Schweigen: ein Regime, das von seinen Verbrechen nichts wissen wollte und Angst hatte, zur Verantwortung gezogen zu werden; die Abwesenheit einer Siegermacht, die ein zweites Nürnberg hätte veranstalten können; die Scham der aus den Lagern Zurückgekehrten, als »Feinde des Volkes« Verurteilten, von ihren Leiden zu sprechen. Vor allem aber ist es die Kompliziertheit der Verhältnisse selbst. Viele, die in den »Säuberungen« Opfer geworden sind, waren zuvor, in der Kollektivierung, Täter gewesen. Viele, die in der »Säuberung« nach oben gekommen sind, sind im Großen Vaterländischen Krieg in den Fleischwolf des Krieges geraten. Ganze Jahrgänge sind so aus dem Zyklus der Generationen verschwunden. Viele, die »mitgemacht« haben, sind selber zum Opfer des Systems geworden – eine Situation, auf die sich die ausschließlich auf das deutsche Desaster Fixierten kaum einen Reim machen können.
Es besteht für mich kein Zweifel, dass erst dann, wenn all jene namenlosen Millionen benannt, erwähnt, zu Gehör gebracht sind, dass erst dann ernsthaft von einer europäischen Erinnerung gesprochen werden kann. Es gibt mehrere Epizentren der europäischen Fortschritts- und Leidensgeschichten, und niemand hat das Recht, von den einen Opfern zu sprechen, aber die anderen zu verschweigen.
Ende der Flucht nach Westen. Im Jahre 1989 ist Deutschland in gewisser Weise von Europa eingeholt worden, die Deutschen sind nach dem Ende der Teilung in die Einheit entlassen worden. Ihnen rückt eine Geschichte wieder nah, und sie rücken in ein Netz von Beziehungen ein, das sie selber zerstört und aus dem sie sich selber herauskatapultiert hatten. Nun lag die ganze Geschichte wieder vor Augen und das Gelände, in dem sie sich ereignet hatte. Da gab es die Geschichte der Zerstörung, aber auch eine Geschichte davor, Jahrhunderte und Generationen, in denen die Deutschen selbstverständlicher und fester Teil des östlichen Europa waren. Die deutsche Geschichte, die manche als »langen Weg nach Westen« sehen, ist wieder dort angekommen, wo sie sich immer abgespielt hat, im mittleren Europa. Damit kehren auch alte historische Beziehungen in den deutschen Horizont zurück. Es zeigt sich nun, dass es eine Geschichte vor der Katastrophengeschichte gegeben hat, eine Geschichte, die nur wenig bekannt ist und die älter ist als die Nation und der Nationalismus, und eine, die zu studieren sich durchaus lohnt.
Ausweitung des geschichtlichen Horizonts. Die westlichen Europäer, die ihre östlichen Nachbarn verstehen wollen, werden nicht darum herumkommen, sich mit deren Erfahrungen zu beschäftigen. Das ist nicht wenig verlangt, und die Warnung vor einer allzu großen »Fernsten-Erinnerung« liegt nahe. Es gibt schlicht Grenzen des Wissens, der Anteilnahme, der Fähigkeit, sich in andere Erfahrungswelten hineinzudenken. Bekanntlich hat es sogar in Deutschland ziemlich lange gedauert, bis man in dem Schatten, den Auschwitz geworfen hat, endlich auch die anderen gesehen und anerkannt hat: die Polen, die sowjetischen Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter. Die europäische Geschichte endet nicht an der heutigen EU -Außengrenze. Eine Erinnerung, die nichts übrig hat für die Opfer des Terrors in der Sowjetunion Stalins, und eine Erinnerung, die nicht auch die Insassen des Gulag einschließt, ist in einem bestimmten Sinne selektiv, unglaubwürdig und wenig europäisch.
Geschichtsrevisionen und Kampf um Deutungshoheit. 1989 war der Beginn einer stürmischen Neu- und Umbewertung der Vergangenheit – der letzten 50 Jahre, manchmal auch der ganzen Nationalgeschichte. In jedem Land ging das auf verschiedene Weise vor sich und umfasste das ganze Spektrum von beherzter und gründlicher Aufarbeitung bis zu Re-Ideologisierungen und neuen Mythenbildungen. Die Auseinandersetzung spielte sich auf
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