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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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wie, sagen wir: die heutige deutsche oder polnische –, wird sich ihrer wilden Jahre, der Jahre ihrer Konstitution erinnern und sie neu zu deuten versuchen. Es ist nicht Nostalgie, sondern die Gegenwart, die dazu anhält.
    Schließlich: In seinem Vortrag auf der Festveranstaltung zum 50. Jahrestag der Charta der Heimatvertriebenen hat Arnulf Baring in großer Bewegung gefordert, dass »auch wir um unsere Toten trauern dürfen«. Nichts könnte die Verspanntheit der deutschen Diskussionslage besser charakterisieren als eine solche Forderung – wenn sie denn berechtigt ist, was ich glaube. Jawohl, wir dürfen trauern, wir dürfen weinen, wenn Menschen Leid zugefügt wird, wenn sie entsetzlichen Leiden ausgesetzt sind, besonders dann, wenn sie hilflos, wehrlos und unschuldig sind, wie das bei Frauen, Kindern, Alten und Kranken fast zwangsläufig der Fall ist – sie waren ja die Hauptleidtragenden von Flucht und Vertreibung. Die Frage ist, warum wir in Deutschland noch immer nicht in einer Lage sind, in der es selbstverständlich ist, dass wir um unsere Toten trauern. Und was würde es bedeuten, wenn wir es jetzt tun dürfen, wenn es jetzt selbstverständlich wäre? Wäre das die Selbststilisierung der Deutschen zum Opfer? Eine nachholende Selbstviktimisierung und Teilnahme an der martyrologischen Konkurrenz? Wäre das so etwas wie eine Entlastung und damit wieder eine Verharmlosung und Relativierung des verbrecherischen Charakters der deutschen Politik unter den Nazis? Die Fragen selbst spiegeln eine Kultur und eine Öffentlichkeit wider, in der sich das Selbstverständliche rechtfertigen muss, in der es eben nicht selbstverständlich ist, der eigenen Toten zu gedenken.
    Die Gründe dafür sind vielfältig und fügen sich insgesamt zu einem Komplex, der überall dort entsteht, wo historische Wahrnehmung und Empfindsamkeit gestört sind. Vieles spielt da zusammen: Ahnungslosigkeit, Abwehrhaltung gegenüber der eigenen Unsicherheit, eine simple Theorie der Vergeltung und der Rache. Ich glaube, dass die nachhaltigste Erschütterung dieses Komplexes nicht von Argumenten, sondern von der Erzählung kommt. Mein Hauptpunkt hier ist daher: Die Erzählung, die europäische Erzählung wird die ideologischen, moralisierenden, politisierenden, instrumentalisierenden Diskurse unterlaufen und eine neue Kultur der Aufmerksamkeit, des Sich-Hineindenkens mit sich bringen, die die erste Voraussetzung geschichtlicher Arbeit und Verstehens ist. Ich bin der Überzeugung, dass dieser freie Raum, in dem wir aufmerksam und gelassen zugleich uns einem der dramatischsten und katastrophischsten Ereignisse der europäischen und der deutschen Geschichte zuwenden, noch immer nicht existiert. Noch immer geht es mehr um ein Pro und Contra als um die Sache selbst. Meine Vorstellung, dass mit dem Ende der Teilung Deutschlands auch die alten Schlachten geschlagen seien, hat sich als verfrüht erwiesen. Der Alp der toten Geschlechter liegt noch immer auf den Lebenden.
    Wir beschäftigen uns heute auf andere Weise mit Flucht und Vertreibung als vor zehn oder 20 oder 40 Jahren. Das liegt nicht nur an der wachsenden zeitlichen Distanz und dem Zurücktreten der sogenannten »Erlebnisgeneration«. Der historische Ort der neuen Aufmerksamkeit ist das veränderte Europa und ein lebendiges Geschichtsbewusstsein, das von der institutionalisierten Geschichte und Geschichtswissenschaft nicht ungestraft ignoriert werden kann.
Wie kommt es, dass eine europäische Erfahrung nach wie vor im Rahmen von nationalen Geschichten erzählt wird, und welche Schwierigkeiten müsste man überwinden?
    Man kann über Europa und europäische Erfahrungen auf unterschiedliche Weise sprechen, zum Beispiel in einer pädagogischen, volkspädagogischen Weise, Europa als gutgemeintes Allheilmittel gegen den »Rückfall in den Nationalismus«. Man kann über die europäische Dimension sprechen in einem Sinne, dass Europa zur Chiffre der Verschleierung wird. Das klingt bei Theodor Schieder an, der hier zitiert wird, nicht um ihn bloßzustellen, sondern weil es mit der hier verhandelten Sache zusammenhängt. Er schrieb: »Die Austreibung nach 1945 ist, wie ich am Anfang schon sagte, ein Stück der deutschen Katastrophe, sie ist aber noch viel mehr: sie ist eine europäische Katastrophe, ein Eingeständnis dafür, dass die europäischen Völker, die sich in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen als eine Einheit im Gegensatz, eine coincidentia oppositorum erwiesen hatten, nicht mehr

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