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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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reicht nicht, indifferente Untertanen zu haben, es bedarf des Bürgers, der sich identifiziert, assimiliert – oder eben ausgeschieden wird. Es geht nicht ohne Öffentlichkeit und ohne gewissen Konsens. Das gilt auch für die Exklusion und die Vertreibung. Es muss immer Leute geben, die profitieren können. Im modernen Staat geschieht nichts ohne Rückendeckung einer irgendwie gearteten Öffentlichkeit. Es bedarf daher der propagandistischen Vorbereitung und Konditionierung.
    Im modernen Europa hat es – stark vereinfacht gesagt – zwei Varianten mehr oder weniger zwangsweise homogenisierter Gemeinwesen – oder Projekte davon – gegeben: die ethnisch-national, ja rassistisch definierte Volksgemeinschaft und die sozial-egalitaristische klassenlose Gesellschaft. Die scharfe Abgrenzung nach außen, die Herstellung einer Deckungsgleichheit von Volksgemeinschaft bzw. Gesellschaft der Gleichen und Territorium war wesentlich.
    Kurz: Umsiedlung und Vertreibung waren nicht Sache des »Rückfalls ins dunkle Mittelalter«, sondern auf der Höhe der Zeit. Konfliktbewältigung mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts. Einsortierung, Aussonderung, Selektion im großen Stil setzt den modernen, identifizierbaren Staatsbürger voraus. 6
    Meist wissen wir mehr über die Opfer als über die Täter. Die Täter sind in der Regel nicht irgendwelche Monstren, sondern »Leute von heute«. Der Täter des 20. Jahrhunderts hat ein modernes Profil, welcher Nationalität er auch sein mag. Wir wissen noch viel zu wenig über sie, über diese durchschnittlichen Vertreter der europäischen Zivilisation. Man kann ebenso gut von der Banalität des Guten wie der Banalität des Bösen sprechen. Es gibt sie überall und vermutlich in gleichem Prozentsatz. Es bedarf nur der Konstellation, damit sie aktiviert werden. Der Mob spielt eine herausragende Rolle, er ist die Avantgarde der Gemeinheit. Es gibt fast immer Alternativen des Verhaltens. Im Grauen der Vertreibung leuchten die Anständigen nur noch mehr.
    Obwohl also fast jeder Mittel- und Osteuropäer mit Umsiedlung und Vertreibung zu tun bekam, wurde sie nicht als europäische Kollektiverfahrung wahrgenommen, sondern als spezifische Erfahrung einer Nation, einer Volksgruppe oder Landsmannschaft. Diese Wahrnehmung blieb zurück hinter der Europäizität der Destruktivität im 20. Jahrhundert.
Was heißt es, sich die Topographien des Verlusts
vor Augen zu führen?
    Wer Europa mit den Augen von Heimatvertriebenen betrachtet, sieht ein anderes Europa. Man könnte auch sagen: Dem gehen die Augen auf. Heimatverlust ist Verlust nicht nur von »Haus und Hof«, von Eigentum, von vertrauter Umgebung. Es handelt sich um mehr. Auch darüber zu sprechen ist nicht einfach. Denn jenen, die den Verlust erlitten haben, muss man das nicht erklären. Sie wissen es. Und jenen, die nichts verloren haben, die »dort nichts verloren haben«, kann man es kaum verständlich machen, was sie verloren haben.
    Was bedeutet der Verlust von Ostpreußen und von Königsberg für die Deutschen? Was bedeutet der Verlust von Lwów oder Pinsk für Polen? Was bedeutet der Verlust von Cluj-Klausenburg oder Timişoara/Temesvár für Ungarn? Was bedeutet der Verlust der Krim für die Krimtataren und für die Russen? Was bedeutet das Verschwinden der Deutschbalten für die europäische Kultur, und was bedeutet das Verschwinden der Russlanddeutschen für die russische Kultur? Was bedeutet die Auslöschung der Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur für Europa?
    Wir könnten fortfahren zu fragen. Ich weiß nicht genau, wie man das in einer modernen, zeitgemäßen Sprache sagt: Das Verschwinden Königsbergs als der bedeutendsten Großstadt im deutschen Osten, das Verschwinden eines Zentrums jahrhundertelanger deutscher Kultur – das ist doch etwas. Aber was ist es genau? Das Verschwinden von Breslau aus dem deutschen Horizont, eines der bedeutendsten Zentren des wirtschaftlichen und geistigen Lebens in Deutschland – das ist doch etwas. Aber was ist es genau? Dass Schlesien verloren ist, dass die Städte von anderen bewohnt sind, was ist das eigentlich genau? Der Totalaustausch der Bevölkerung ganzer Provinzen und Landesteile – das ist doch etwas. Aber was ist es eigentlich?
    Der Osten, das östliche Deutschland, der deutsche Osten – das ist durch die Kriegs- und Vertreibungsereignisse traumatisiertes Gelände geworden. Der Osten – das war: Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Willkür, Tod, Kälte, Hunger, Flucht, Vertreibung,

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