Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Aussiedlung, Vergewaltigung, Armut, Verwilderung, Verwahrlosung, Vernachlässigung, Verwüstung. Diese Erfahrungsschicht hat sich über eine andere gelegt: Weite, Großzügigkeit, große Landschaft, weiter Himmel, Eintritt in einen anderen Horizont, Lebenschancen, Abenteuer, Grenzenlosigkeit, Begegnung mit dem anderen, Zauber der langsameren Zeit, wunderbare Landschaften. Und der Osten war, das ist für die Nichtbetroffenen oder erst später und in zweiter Linie Betroffenen nicht auf Anhieb zu erkennen, Vertreibung vor der Vertreibung, Deportation vor der Deportation, Enteignung vor der Enteignung, Zerstörung von Kirchen, Archiven, Schlössern und Städten vor der Zerstörung der eigenen Kulturschätze; das ist mit System betriebene Versklavungs- und Ausrottungspolitik – bevor es einen selber erreicht hat.
Wer im heutigen östlichen und mittleren Europa unterwegs ist, wird diese Spuren noch immer vorfinden: die Friedhöfe, die Albertina, die Promenade von Rauschen, Thomas Manns Haus in Nidden, die Kasernengebäude von Memel und Stettin, die Post von Danzig, die Kaufhausbauten von Mendelsohn und die weißen Dampfer von Scharoun, Max Bergs Jahrhunderthalle in Breslau, die Brücke von Dirschau, die Stadttore von Berlinchen, Crossen oder Meseritz.
Man könnte eine ähnliche Reise auf den Spuren des polnischen Ostens machen: auf den Rossa-Friedhof in Vilnius oder den Lytschakiwski-Friedhof in Lemberg, die Festungen von Kamenetz-Podolsk und Chotin über dem Dnjestr, die Schlösser und Burgen in den Kresy.
Es gibt ein eigenes – grenzüberschreitendes – Genre der Erinnerung und Konservierung: Es sind die Bildbände, in denen die Erinnerung gespeichert ist. Ihre Analyse über die Jahre hinweg wäre ein lohnendes Forschungsobjekt. Denn es sind darin die Bildwelten einer untergegangenen Welt gespeichert und immer wieder neu arrangiert.
Die Spuren sind sichtbar, jedenfalls für das aufmerksame Auge. Man erkennt ohne weiteres den kulturellen Code: die Anlage der Straßen, die Speicher in den Häfen, die Brückenkonstruktionen, die Art, in der die Ziegel gebrannt sind, die einheitliche Fasson von öffentlichen Bauten, die stilistische und geschmackliche Orientierung an Berlin, manchmal auch verwaschene Inschriften, eine Jahreszahl an der Stirnseite eines Wohnhauses, die Namen auf den Friedhöfen, manchmal sogar der Wasserkran in einer Pension. Das ganze östliche Europa ist eine Art Pompeji. Dieses Pompeji fasziniert nicht nur jene, die ihre Heimat verloren haben, sondern jene, die sie neu gewonnen haben und sie sich aneignen. Eine ganze Literatur der jüngeren Generation – Pawel Huelle, Stefan Chwin und andere – lebt von dieser Erkundung Pompejis, das zur Heimstatt des eigenen Lebens wurde.
Aber es ist auch ein Kontinent nach Pompeji, mit neuen Grundrissen, neuen Inschriften, einem neuen kulturellen Code. Es handelt sich dabei nicht nur um eine neue Sprache. Es ist häufig Weiterbauen und Wiederaufbauen in einem. Es handelt sich um eine Form der kulturellen Aneignung und der Implantierung eines neuen kulturellen Codes. Er ist so reich wie das Leben selbst: Er sagt etwas über die Herkunft, über die Gewohnheiten der Neusiedler, über das Sesshaft-Werden, über den Transfer von kulturellen Mustern, über den Transfer von kulturellen Eliten, von handwerklichen Kompetenzen, über die Inbesitznahme eines fremden, wilden Landes und dessen allmähliche und unaufhaltsame Aneignung, und das heißt auch: über Wiederaufbau, Entwüstung, Rückführung ins Leben, Kultivierung.
Die Codes decken sich nicht, sie sind häufig sogar physisch getrennt. Das Wissen um die Städte und Landschaften, wie sie »davor« waren, ist in den Photoalben, die gerettet sind, oder in den Heimatmuseen aufbewahrt: sagen wir in Ulm oder Herne oder Recklinghausen oder Fürstenwalde, in der zweiten Heimat also, während in der ersten Heimat sich Menschen niedergelassen haben, die noch immer an ihrer eigenen ersten Heimat hängen. Über Breslau ist das der Himmel von Lwów, über Stettin der Himmel von Wilno, über Słubice der Himmel von, sagen wir, Baranowitschi oder Grodno. Die Heimatvertriebenen tragen ihre Bilder mit sich herum, und wahrscheinlich ist es so, dass sie sich besser verstehen als mit jenen, die dieses Geheimnis nicht haben. Sie haben ein Bild von Mittel- und Ostmitteleuropa, das den anderen abgeht, die von den Schrecken, aber auch vom Zauber dieser Region keine Ahnung haben.
Ich beneide eigentlich die älteren Herrschaften, denen
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