Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Vermutung im Raume, dass mit der Rede von der Vertreibung die Deutschen sich endlich in der öffentlichen Diskussion als die Opfer präsentieren können, die zu sein ihnen im postfaschistischen Diskurs ausgetrieben oder untersagt worden ist?
Für die Veränderung der Diskussionslage lassen sich mehrere Motive nennen.
Die jugoslawische Erfahrung. Sie besagte, dass radikale Verfeindung in durchschnittlich zivilisierten Gemeinwesen durchaus möglich ist, dass der Greuel über Nacht den dünnen Firnis der verinnerlichten Kultur durchbrechen kann; dass die Spaltung der Gesellschaft entlang bestimmter Kriterien bis zu Krieg, Vernichtung, Selbstmord getrieben werden kann. Die Erfahrung dieser Dimension von Destruktivität ist für die Welt nach 1945, die im umhegten Gefilde der geteilten Welt aufgewachsen war, eine radikal neue Erfahrung, die Folgen haben wird dafür, wie sie Geschichte versteht. Man könnte es als ein Exerzitium in Entharmlosung bezeichnen. Die Rückkehr sozialer Gewalt im größten Maßstab, die für die ältere Generation die Regel, für die Nachgeborenen nur ein Hörensagen war. Aber jenseits der Modalitäten der Geschichtswahrnehmung – also der Erfahrung vom Menschenmöglichen – war der konkrete historische Komplex zurückgekehrt: der ethnische Konflikt, die »Säuberung« als Praxis der angeblichen Konfliktlösung, Staatszerfall und Staatsbildung entlang ethnischer Grenzen, Ausgrenzung und Liquidierung – Praktiken, von denen man lange Zeit annehmen konnte, dass sie der Vergangenheit angehörten, waren mit einem Mal wieder da. Noch dazu in einer Region, die seit den Balkankriegen das historische Quellgebiet und Experimentierfeld für population transfer und forced migration war. Das war die erste Lektion in Sachen Schärfung des Sinns und Generierung einer neuen Aufmerksamkeit.
Zweitens: Die reif gewordenen Gesellschaften des mittleren und östlichen Europa, die die alten Strukturen abgesprengt, abgewickelt, in Pension geschickt hatten, taten, worauf sie längst innerlich vorbereitet waren: sich den Quellen auszusetzen und eine Diskussion, die aufgehalten oder nur in verzerrter Form geführt worden war, öffentlich zu machen. In vielen Fällen wurde jetzt publiziert, was gedanklich längst vorher fertig gewesen war und schon in den Schubladen bereitgelegen hatte. In manchen Fällen führte das dazu, dass zum ersten Mal überhaupt über die »historischen Phänomene« informiert, in einigen Fällen, dass auf qualitativ neue Weise gesprochen wurde. Die Lage ist hier in jedem Land ganz verschieden, und man könnte sagen: Die Art und Weise, die Dignität und Solidität, die Entspanntheit, in der über den Vertreibungskomplex gesprochen wird, ist ein ziemlich guter Indikator für den Stand der zivilkulturellen Entwicklung. In den Gegenöffentlichkeiten – ob bedeutend oder nur marginal – waren die fälligen Fragen oft schon aufgeworfen und geklärt worden. In fast allen Fällen ist großartige Arbeit geleistet worden; die Ungleichzeitigkeit und Asymmetrie der Diskussionslagen zwischen Ost und West ist entschieden angegangen worden; die aufregenden Dinge passierten in der östlichen Forschung und Diskussion (es geht ja nicht immer nur um Wissenschaft im engen Sinne). Ich kann hier nur ein paar Beispiele nennen. Ich denke an die frühen Arbeiten von Krystyna Kersten, an die jüngsten Untersuchungen von Bernadette Nitschke etwa und an die Konferenzen zum Komplex »Vertreibung« vor einigen Jahren sowie die gemeinsame Quellenedition deutscher und polnischer Historiker unter Leitung von Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg. Ich denke an die Publikationen von Jan Kren und Detlef Brandes, von Jan Stanek und die zahlreichen deutsch-tschechisch-österreichischen Konferenzen zum Thema. Ich denke an die eindrucksvolle, inzwischen viele Bände umfassende Quellenedition zur Deportation von Völkern und ethnischen Gruppen in der ehemaligen Sowjetunion, die vom Nationalitätenministerium, vom Fonds für die unterdrückten Völker und Bürger und vor allem von Nikolai Bugai herausgebracht worden sind und ein gänzlich unbekanntes Feld für Forschung und Öffentlichkeit eröffnet haben, insbesondere für die Frage nach der ethnisch gefärbten Homogenisierungspolitik der Sowjetunion unter Stalin. In den Hauptstädten aller baltischen Staaten sind mittlerweile Dokumentations-, Forschungs- und Ausstellungszentren eingerichtet worden, in denen die Massendeportationen aus diesen Regionen dokumentiert und erforscht
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