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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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errichten. Ist die Zeit dafür reif? Sollte man so etwas machen, und wenn ja: wie sollte es aussehen?
Was ist der historische Ort der neuen Beschäftigung mit der Vertreibung heute?
    Es ist offensichtlich, dass sich die Diskussionslage in Sachen Vertreibungsgeschichte geändert hat und dabei ist, sich weiter zu ändern. Vieles deutet darauf hin.
    Um nur einige Indizien zu nennen:
    Was zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung noch wie eine bayerische Sonderentwicklung aussah – Rudolf Mühlfenzls Dokumentation über Flucht und Vertreibung –, die sich aus einer gewissen Nähe des Bayerischen Rundfunks zu den Landsmannschaften ergab, ist inzwischen, soweit mir bekannt ist, auch in vielen anderen Programmen gelaufen. Diese Veranstaltung und die vom ORB ausgestrahlte Dokumentation selbst sind ein Hinweis auf die veränderte Lage. Die Ankündigung weiterer Fernsehanstalten, sich des Themas anzunehmen oder zu bemächtigen, spricht für ein steigendes Interesse, oder vielleicht sollte man sagen: dafür, dass Institutionen sich für Themen interessieren, die schon lange in der Gesellschaft vorhanden waren, aber nachhaltig ignoriert worden sind – aus welchen Gründen auch immer.
    Zum 50. Jahrestag der Charta der Heimatvertriebenen hat Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der Festversammlung im Berliner Schauspielhaus eine Rede gehalten, in der er auf eine behutsame und klare Weise an die Leiden der Heimatvertriebenen erinnert, ihre Verdienste hervorgehoben und es zugleich nicht unterlassen hat, die Grenzen einer bestimmten Art von Interessenvertretung zu benennen. Immerhin der Kanzler einer Partei, die vor 30 oder 20 Jahren als Partei des Verrats angegriffen und diffamiert worden ist. Es gab stellenweise Gemurre, aber keinen Eklat. Die alte hochideologische Konstellation »Neue Ostpolitik und Versöhnung vs. Revisionismus und Revanchismus« ist obsolet geworden und hat sich irgendwie erledigt.
    Allein diese beiden Hinweise deuten auf einen Wandel der öffentlichen und veröffentlichten Wahrnehmung zu diesem Thema hin. Wir können aber auch etwas systematischer fragen, warum das gerade jetzt passiert und inwiefern es sich von vorangegangenen Weisen des Umgangs mit dem Thema unterscheidet. Diese Frage ist wichtig, weil wir damit Aufschluss bekommen, ob sich darin wirklich ein genuines und starkes geschichtliches Interesse und Bewusstsein zu Wort meldet oder ob wir es eher mit einer beiläufigen, vielleicht auch zufällig-marginalen Erscheinung zu tun haben. Die meisten werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass sich ein starkes und waches Geschichtsbewusstsein in der neuen Thematisierung zu Wort meldet und nicht einfach der Komplettierungszwang des akademischen Betriebs oder die Suche nach exotisch-interessanten Themen.
    Jahrestage sind immer Anlässe für öffentliches Nachdenken, niemals der wirkliche Ausgangspunkt. Die Geschichtszeit fällt nicht mit der Kalenderzeit zusammen. Es ist die Gegenwart, die die Fragen an die Vergangenheit stellt, wir sind die Frager, nicht umgekehrt. Was also verbirgt sich in den neuen Fragen an ein eigentlich altes Thema, von dem viele geglaubt hatten, es habe sich längst erledigt? Die Fragen der letzten Jahre werden mit neuen historischen Erfahrungen im Rücken – oder vor Augen – gestellt:
    Das Jahrhundert der Flüchtlinge ist, wie die ethnischen »Säuberungen« in Jugoslawien und anderswo gezeigt haben, nicht zu Ende, sondern noch in Aktion.
    Die Umwälzung im mittleren und östlichen Europa hat die Diskussionslage radikal verändert: Quellen, die bisher unzugänglich waren, sind zugänglich; ein Thema, das mehr oder weniger tabuisiert war, ist öffentlich verhandelbar – in den einzelnen Ländern freilich ganz unterschiedlich.
    Europa und speziell Deutschland ist aus dem Stress des Kalten Krieges entlassen, es kann sich, nachdem der Feind verschwunden ist, endlich mit sich selbst beschäftigen und testen, was es ohne Feind ist; es ist in eine Phase der Souveränität eingetreten, in der sich zeigen wird, ob ein unter Bedrohung zustande gekommenes Gebilde auch ohne Bedrohungsstress leben kann.
    Das gilt insbesondere für die wissenschaftliche und intellektuelle Kultur, die in einem gespaltenen und unter den Druck- und Zugverhältnissen des Nachkrieges zustande gekommenen Land eine Kultur des Partei- und Lagerdenkens und der Verdächtigung gewesen ist. Was geschieht, wenn die ideologische und moralische Hochrüstung plötzlich nicht mehr nötig ist? Und steht nicht schon auch hier wieder die

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