Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Selbstvertrauen. Mehr kann man auch gar nicht sagen. Es gibt das eine und das andere: Gelassenheit und Hysterie, die Neigung zur Flucht nach vorn und in den kurzen Prozess und eine durch Geschichte klug gewordene gesellschaftliche Erfahrung. Es gibt die Versuchung durch einfache, allzu einfache Lösungen, aber auch das Wissen, dass man durch Aushandeln und Kompromiss letztlich weiterkommt als durch Basta-Rhetorik und Basta-Schritte. Dass 500 Millionen Menschen inmitten der weltgeschichtlichen Verschiebungen und Turbulenzen irgendwie miteinander auskommen – das ist angesichts dessen, was war, nicht wenig. Die Lehre kann nur sein: Man kann nichts erzwingen, nichts forcieren, man soll die Dinge kommen und wachsen lassen. Heraus kommt eine Gemengelage, ein Spiel mit ständig wechselnden Variablen. Notwendig sind Selbstsicherheit, Souveränität, Resistenz gegen gesellschaftliche Hysterie und Panik, auch wenn das nach Langsamkeit aussieht und nach einem Mangel an Dynamik.
(2010)
Grenzland Europa
Grenze, im Russischen und Polnischen granica , ist eine der nicht sehr zahlreichen slawischen Vokabeln, die ins Deutsche Eingang gefunden haben. Das muss etwas bedeuten. 1 Die Bürger Zentraleuropas sind Spezialisten in Sachen Grenze und Grenzüberschreitung. Sie haben viel Lebenszeit mit Grenzübertritten und den dafür notwendigen Prozeduren und Ritualen verbracht. Sie sind fast berufsmäßige Komparatisten, die ihre Feldstudien in höchster Aufmerksamkeit, ja Anspannung durchgeführt haben. Sie haben verglichen: worin sich der Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße von Dover-Calais unterscheidet und dieser wiederum von der Grenze zwischen Odessa und Istanbul. Wir waren an den Grenzen lange genug aufgehalten, um Zeit zu finden, um Notizen zu machen. Wir haben verstanden, dass es einen Unterschied zwischen wohleingerichteten, seit Jahrhunderten existierenden Grenzübergängen gibt und solchen an ganz jungen und künstlichen Grenzen. Wir haben dort Langzeitstudien getrieben und Lektionen fürs Leben erteilt bekommen. Jede Veränderung der Großwetterlage in der Weltpolitik hatte dort unmittelbare Auswirkungen. Wir haben das ganze Spektrum von Neuerungen studieren können, die der Phantasie der Grenzbürokratie entsprungen waren: die Bindung der Grenzüberschreitung ans Rentenalter, die Erfindung einer neuen Spezies der Reisekader, die Erneuerung des Instituts der Sippenhaft, die Leibesvisitation und Durchleuchtung. Wir sollten diese Erfahrung nicht vergessen: Grenzüberschreitung war und ist ein rite de passage sui generis.
Glücklich das Land, das Grenzen hat
Nicht überall gilt die allgemeine Erfahrung der Mitteleuropäer vom Überschreiten der Grenzen. Ich erinnere mich, als ich kurz nach der Öffnung des Kaliningrader Gebiets für Ausländer im Jahre 1992 zum ersten Mal nach Kaliningrad/Königsberg fuhr. Ich fuhr im Bus aus Vilnius über Kaunas zur Grenzstadt Sowjetsk, das alte Tilsit an der Memel, die hier von der alten Königin-Luise-Brücke überquert wird. Die litauische Souveränität war noch ganz frisch, die Grenzkontrollen waren noch sehr improvisiert, die Handlungen der Grenzbeamten noch etwas unsicher. Betonblocks zwangen den Bus zur verlangsamten Slalomfahrt. Die Zoll- und Passbeamten in ihren ebenfalls ganz neuen Uniformen mit den neuen Hoheitszeichen kamen in den Bus und verlangten die Pässe. Für die meisten Passagiere war dies eine völlig neue Erfahrung: Sie waren ihr Leben lang von Vilnius, Kaunas oder Klaipėda nach Kaliningrad gefahren, und noch nie hatte sie jemand nach ihrem Pass gefragt. Die allermeisten hatten gar keinen Auslandspass. Zwei Frauen waren so empört und begannen in ihrer Wut und Hilflosigkeit zu jammern und zu weinen: »Was! Warum brauchen wir hier einen Pass? Hier hat es nie eine Grenze und nie eine Kontrolle gegeben. Es ist unglaublich.« Die beiden Russisch sprechenden Frauen waren auf dem Weg zu ihren Verwandten im Kaliningrader Gebiet, das über Nacht für litauische Staatsbürger zum Ausland geworden war. Sie mussten schließlich den Bus verlassen und zurückbleiben. Sie konnten nicht verstehen, dass das Reich, in dem es nur einen endlosen und grenzenlosen Raum, nicht aber souveräne Staaten mit eigenen Grenzen gab, zu existieren aufgehört hatte. Sie hatten ihr Lebtag lang in einem Reich gelebt, in dem es mehr als 100 Völkerschaften, Dutzende Sprachen und religiöse Bekenntnisse gab, nicht aber Grenzen – es sei denn die Grenzen, die um geschlossene Städte und militärische
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