Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Aussig/Ústí nad Labem, die Überfälle auf Roma in Ungarn, die Massenausweisung in Frankreich und die Abschiebungen in Deutschland zeigen, wie eng die Grenzen der Belastbarkeit gezogen sind.
Konsumismus als Zivilreligion. Es ist ein tiefgreifender (kultureller) Wandel, wenn binnen kürzester Zeit ganze Gesellschaften ihr Mobiliar, ihre Interieurs, ihre Umgebungen auswechseln. In gewisser Weise geschah dies in den letzten 20 Jahren im östlichen Europa – bei den einen weniger, bei den anderen mehr, bald luxuriös, bald nur oberflächlich, aber irgendwie bei allen. Was bedeutet der Übergang von einer Kultur des Stehens in Warteschlangen vor Geschäften zu einer Kultur, in der die Menschen als Kunden und Käufer umworben werden, von einer Kultur der ewigen Knappheit zu einer Kultur des Überflusses, von einer Kultur, in der nicht Geld, sondern access via Beziehungen entscheidend war, zu einer Kultur, in der mit Geld alles zu machen ist? Dies war ein wesentliches Moment der Erosion und Neubildung der Lebenswelt von Millionen von Menschen. Es stellt sich hier die Frage, welche Rolle der entgrenzte, alles erfassende Konsum und die entsprechende Einstellung für die Neugestaltung der menschlichen Beziehungen spielen. Ich glaube, dass es eine unendlich pazifizierende, depolitisierende, individualisierende Rolle gespielt hat, ein Moment von Reichtums- und Wohlstandsbildung, von Zauber und Attraktion, ohne die keine gesellschaftliche Umwälzung gelingen kann. Als die Supermärkte aus dem Boden schossen, als das Land mit Waren aller Kategorien und Klassen überschwemmt wurde, reagierten wir meistens mit Naserümpfen und Distanzierung. Das ist ein Rest der Vorstellung, dass Revolutionen nur etwas für und von Helden sind, dass sie undenkbar sind ohne heroisch-asketisches Pathos. Aber man muss heute eher sagen: Ein Gedeihen der Zivilgesellschaft ist ohne den Warenzauber nicht denkbar. »Wer Handel treibt, schießt nicht« – das war für mich eine Schlagzeile der frühen 1990er Jahre gewesen, die ein Lehrstück für eine ganze Epoche enthält. Darin ist die zivilisierende Kraft von Handel, Markt, aber eben auch von Konsum enthalten. Wer konsumiert, führt keine Kriege und keine Bürgerkriege. Wer konsumiert, der will nicht, dass die Knappheit zurückkehrt, dass die Distribution der Waren unterbrochen wird, der will, dass der Markt funktioniert und keine politischen Interventionen von außen ihn stören. Wer sich etwas zu eigen gemacht hat, will es nicht mehr hergeben. Wer etwas zu verlieren hat, dem ist nicht mehr alles gleichgültig und der wird sich vielleicht zur Wehr setzen, wenn ihm etwas weggenommen werden soll. Es ist ganz witzlos, von ziviler Gesellschaft zu sprechen ohne Besitz, ohne Eigentum und ohne den Genuss des Eigentums – ob als Produktionsmittel oder als Konsumtionsmittel. Die Malls, die vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern entstanden sind, waren gleichsam Tempel des Säkularismus.
Europäische Öffentlichkeit: der Prozess von Moskau . Wo leben wir eigentlich! In Moskau findet seit über einem Jahr ein Prozess statt, bei dem die beiden Angeklagten – die Unternehmer Michail Chodorkowski und Platon Lebedew – in einem gläsernen Käfig sitzen, in dem stundenlang, tagelang, wochenlang und nun schon über ein Jahr Tausende von Seiten aus Akten vorgelesen werden und der trotz Gegenaussagen und Beweisen mit einem Schuldspruch enden wird. Aber es gibt keinen Aufschrei der westlichen Öffentlichkeit. In Zeiten des Kalten Krieges war klar, wer Feind und wer Freund war, wen man unterstützen und wen man bekämpften musste. Heute ist alles unübersichtlich und undurchsichtig.
Von draußen kommend . Europa ist am eindeutigsten auszumachen, wenn man von draußen zurückkommt – nach einem Achtstundenflug aus Shanghai oder Nordamerika. Das ist es also. Wir erkennen es sofort: an der Bewegungsart, an den Abständen zwischen den Häusern, am Fluss des Verkehrs, an einer Straßenbahn, an der Zahl der ausliegenden Zeitungen. Europa ist, verglichen mit der Wucht der städtischen Zusammenballungen Ostasiens, leer und langsam. Die Städte wirken alt, überaltert, puppenstubenhaft, Parcours für Touristen, die eine alt gewordene Welt besichtigen wollen: schön, aber nicht up to date . Und doch ist es kräftig, leistungsfähig. Man weiß, dass es nicht hohl ist, sondern etwas auf die Beine stellen kann, wenn es gefordert wird. Wir sind also gespalten, hin- und hergerissen zwischen Selbstzweifel und
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