Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Verbindung aus einer in Kleinasien gewachsenen, jahrtausendealten Händler- und Handwerkskultur mit dem Organisationsgenie der osmanischen Reichsspitze samt amerikanisch geprägtem Nato-Pragmatismus zurück. Die Ankunft auf dem Atatürk International Airport bringt das alles zusammen. Die Menschenmengen, die aus aller Welt, vor allem aus dem Raum des alten Osmanischen Reiches von Skopje bis Samarkand, von Kairo bis Mekka eintreffen, sind, ohne auch nur den Anflug von Chaos aufkommen zu lassen, im Nu sortiert und kanalisiert. Wer ein Visum braucht –wie bis vor kurzem die in Massen ankommenden russischen Staatsbürger –, bekommt binnen weniger Minuten für fünf Dollar eines am Schalter. So einfach ist das also: ein Visum an der Grenze. Und alles geht auf gesittete, höfliche Weise vor sich und auf spiegelblank polierten Fußböden in den riesigen Ankunftshallen. Istanbul/Konstantinopel/Byzanz, die 15-Millionen-Stadt, die man vom Flugzeug aus zwischen der Küste des Schwarzen Meeres und des Marmarameeres hingestreckt sieht, ist die größte Stadt Europas. Man müsste Formen finden, in denen das auch vertraglich fixiert werden könnte, in einer Art moderner Hanse oder einem Bund der Stadtrepubliken. Die Form der Europäischen Union kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Russen in Berlin und anderswo. Die Russen in Berlin haben sich in ein Sujet der Trivialliteratur verwandelt und haben aufgehört, Furore zu machen – es sei denn, es gibt wieder einmal eine Schießerei in der Bleibtreustraße. Sie sind überall. In den Supermärkten gibt es eine Ecke mit russischen Lebensmitteln, auf dem Spielplatz wird das Kleinkind von einer njanja umsorgt. Im Fitnesscenter und in der Sauna werden ungeniert und gut hörbar Geschäftsprobleme erörtert. Im ICE wird ununterbrochen mit der ganzen Welt zwischen Moskau, Irkutsk und Haifa kommuniziert. Sie sind überall: an der türkischen und an der französischen Riviera, in Baden-Baden und in Karlsbad, aber auch in einem beliebigen Dorf in Irland. Man hat den Eindruck, ganz Russland ist auf Reisen, nun aber nicht mehr in Delegationen und Gruppenreisen, sondern individuell, mit eigenen Routen und vorab per Internet gebuchten Hotelzimmern. Irgendwie haben sie die Amerikaner als Besucher und Touristen abgelöst. Und doch ist es kein gewöhnlicher Tourismus, sondern eine Wanderung in unterschiedlichen Intensitätsgraden und verschiedener Verweildauer: von Stippvisite und Einkaufstrip über Studienaufenthalt bis zur endgültigen Niederlassung, eine Mischung aus Urlaub und Absetzbewegung und Flucht, Reisen als Pendeln zwischen Erst- und Zweitwohnung, Reisen als Provisorium in instabilen Zeiten, in denen offensichtlich jederzeit etwas passieren kann. Vor allem den jüngeren Russen sieht man an, dass sie nicht zum ersten Mal hier sind, sie kennen sich aus, sie wissen sich zu bewegen, sie sind weltläufig geworden. Aber was auf der einen Seite als Anreicherung ( brain gain ) empfunden wird, ist für die andere Seite unersetzlicher Verlust, auch in zwei Generationen nicht aufzuholen: brain drain .
Buchmärkte, Ideenmärkte. Wie soll man darüber eine zusammenfassende Bemerkung machen! Am östlichen Pol vollzog sich die Rückkehr ins Gutenberg-Zeitalter, das Ende der selbstgemachten Bücher, des Samizdat, und die Rückkehr in ein normales Verlagswesen, am anderen – westlichen – Pol löst sich, so sagt man, das Buch auf in Internet und E-Book. Buchhandlungen sind so wie die Landschaften, in denen man sie findet: überbordend oder ärmlich, aus allen Nähten platzend, altmodisch-chaotisch oder puristisch-modern. Alle Verwerfungen bilden sich in der Bücherlandschaft ab. Sie sind Orte der Ungleichzeitigkeit: Einerseits schließt der östliche Markt an die weite Bücherwelt an, andererseits kann man Regressionen beobachten, das Ansteigen des Schundpegels und der Massenware. Aber auch das ist eine Normalisierung: Die alten klassischen (Staats-)Verlage brechen weg, doch es entstehen auch wie nach einer langen Dürre, wenn der erste Regen fällt, blühende Wiesen mit einem Blumenmeer, das sich kaum übersehen lässt.
Geschichten erzählen. Museen des guten Willens. Fast überall will man die Gespenster des 20. Jahrhunderts loswerden, und es gibt – bei den Eliten jedenfalls – einen starken Willen, die Gespenster zu bannen, die Leichen im Keller endlich zu bestatten; was nicht heißt, dass es nicht auch andere Tendenzen gibt: die bösen Geister loszulassen, die Toten in den Dienst der
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