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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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»Oder-Neiße-Grenze«. Alle Stadien und Erscheinungsweisen von Grenzen und Grenzregimen, zwischen harten und weichen Grenzen, zwischen inszenierten Provisorien und Grenzen mit dem Nimbus des Ewig-Natürlichen, lassen sich hier durchspielen. 4 Als Schnittpunkte können hier die großen Zäsuren, die für Grenzverschiebungen stehen, genannt werden: Kriege, Revolutionen, Staatszusammenbrüche, Staatswerdungen. Zu diesen Knoten und Verdichtungspunkten gehören der Erste und Zweite Weltkrieg, die gewaltsamen Grenzverschiebungen und die Friedenskonferenzen, auf denen (neben Reparationen, Demilitarisierung usf.) neue Grenzen festgelegt worden sind. Konkret geht es um die Pariser Friedensverträge von 1919 – Versailles, Saint-Germain, Trianon, Sèvres, Neuilly-sur-Seine –, die Konferenzen am Ende des Zweiten Weltkrieges in Jalta und Potsdam 1945, die Besiegelung des Status quo auf der KSZE in Helsinki 1975 und schließlich die geopolitisch radikale Transformation Zentral- und Osteuropas durch Unabhängigkeitserklärungen und neue Grenzziehungen, die sich aus dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, aber auch dem Zusammenbruch Jugoslawiens ergaben. Die Erforschung von Grenzfragen wird heute nicht mehr nur als Appendix diplomatischer Abmachungen und internationaler Konferenzen gesehen, sondern als Gegenstand für sich, mit seiner historischen Genese, seiner Bedeutung für die Bildung kollektiver Identitäten, für die Ausprägung von Staatsbürgerrechten, als Schauplatz für Konfliktaustrag und Konfliktvermittlung. Werden die Konflikte um die Peripherien erst einmal ins Zentrum gerückt, entsteht ein neuer Blick auf die Zentren selbst und deren Fähigkeit oder Unfähigkeit der Konfliktlösung.
    Grenzfragen haben nicht umsonst Europa in Atem gehalten. Wohin wir blicken – contested areas und in Frage gestellte Grenzen: Karelien, Dalmatien, Bessarabien, Dobrudscha, Wilna, Memelgebiet, Abstimmungsgebiete in Oberschlesien und Ostpreußen, Sudetenland, Elsass-Lothringen, Eupen. Nicht zu vergessen in allerjüngster Zeit die Grenzen, die mit der Auflösung der UdSSR , der nach Putin »größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts«, entstanden sind und dem Ende Jugoslawiens. Die bloße Aufzählung von Grenzrevisionen macht deutlich, dass diese historische Region im 20. Jahrhundert geprägt ist von einer fast auf Dauer gestellten Grenzverschiebung und einem Wandel der Grenzregime, die ihrerseits mit Zusammenbrüchen und Neubildungen von Staaten und Gesellschaften verbunden waren. 5 Die für mehr als ein Jahrhundert gültigen Grenzen des östlichen Mitteleuropa – noch einmal sanktioniert durch den Wiener Kongress 1815 – machten den Grenz- und Staatszusammenbrüchen der Weltkriegs- und Revolutionsepoche von 1914 bis 1945 Platz.
    Es ist kein Zufall, dass Geographen, Demographen und Kartographen in den jeweiligen Delegationen der Pariser Friedenskonferenzen prominent vertreten waren und dass die Zwischenkriegszeit erfüllt war von einem nicht abreißenden »Krieg der Karten«. Mit der eindeutigen, wissenschaftlich begründeten Grenze sollten Reibungsflächen, Konfliktpunkte und Konfliktfelder beseitigt werden, eine offenbare Illusion, denn es waren in der Regel nicht die Grenzen, sondern die dahinter stehenden Kräfte, die jene Grenzen zum Gegenstand erbitterter und tödlicher Verfeindung und Kämpfe hatten werden lassen.
Imperium, Nationalstaat, One World
    Ohne hier in einen Schematismus verfallen zu wollen, kann man davon ausgehen, dass die Grenze von Imperien eine andere Form und Funktion hat als bei nationalen Territorialstaaten und dass diese sich wiederum unterscheiden von postnationalen Gebilden in der Epoche der Globalisierung. Die neuere Imperiumsforschung hat gerade auf die transethnische und transnationale Integrationskraft von Imperien verwiesen und die Vorstellung von den »Völkergefängnissen« als allzu einfaches Klischee relativiert. Imperien haben, so scheint es, für lange Zeit eine Balance zwischen äußerer Reichsgrenze und inneren Binnengrenzen, zwischen Imperialität und ethnischer, sprachlicher, kultureller Heterogenität halten können. Imperialgrenze nach außen und Heterogenität nach innen gehörten offenbar zusammen, während der Ausbau des ethnisch, sprachlich, kulturell homogenen Nationalstaates mit der Ziehung strenger Grenzen einherging.
    Die nationalen Aufstiegsbewegungen, die die Imperien sprengten, kamen – fast gleichzeitig – voll zum Zug in Wilsons »14 Punkten« und in Lenins

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