Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
kleinen und je aktuellen Tagespolitik zu stellen, sie für sich einzuspannen, Gespensterkämpfe zu inszenieren, weil man in der Realität selber nicht weiterkommt. Das gibt es überall, besonders dort, wo die Beschwörung nationaler Mythen Stimmengewinn verspricht. Aber es gibt eben auch die andere Tendenz, die stark ist. Die Schaffung eines Musée d’Europe in Brüssel ist nur ein Indiz, die Spitze einer Bewegung. Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk/Danzig ein anderes, das Museum der Juden in Polen ein weiteres. Die Schaffung eines Zentrums der Geschichte der Flucht, Vertreibung und Versöhnung in Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, eine Geschichte endlich zur Ruhe kommen zu lassen, indem sie erzählt, gezeigt, ausgestellt wird. Fast überall in Europa kann man diesen Prozess beobachten und analysieren. Es wird seine ganz eigene Zeit brauchen, diese Geschichten, die so lange blockiert und im Keller verstaut waren, auszupacken und zur Sprache zu bringen. Es braucht Zeit, Geschichten zur Sprache zu bringen, vor allem aber: sie sich geduldig anzuhören, ohne in bloßen Abwehrreflex zu verfallen.
Jahrestage, Jubiläen, Erinnerungspolitik und kein Ende. Europa nach dem Krieg ist wieder zu Kräften gekommen. Man kann es unter anderem daran ablesen, dass es sich zumutet, sich eine Geschichte zu vergegenwärtigen, die es unmittelbar nach den Katastrophen auszuhalten nicht in der Lage war. Damals gab es eine Flucht aus der Vergangenheit in die Gegenwart, in den Aufbau, in die Bewältigung der unmittelbaren Tagesnöte. Das als bloße Verdrängung abzutun greift zu kurz. Heute hat man einen gegenteiligen Eindruck. Europa ist in die Jahre gekommen, es ruht sich aus auf seinen Verdiensten und Errungenschaften, es ist mit seiner Geschichte mehr oder minder ins Reine gekommen, und es hält sich an dieser »bewältigten Vergangenheit« geradezu fest. Dort ist alles klar, während in der Gegenwart alles dunkel, unentschieden, wenigstens ambivalent ist. Man tut sich mit der Gegenwart schwerer als mit der Vergangenheit, die hinter einem liegt und an der man sowieso nichts mehr ändern kann. Geschichtsvergessenheit wie Geschichtsversessenheit sind so viel wie Gegenwartsverdrängung, Kompensation für Defizite bei der Bewältigung der Gegenwart. Die Flut und der ganze Betrieb der Jahrestagsfeiern, die Ablösung von der Realzeit und die Orientierung an einer Zeit der Jahrestage, die Ersetzung einer gelebten Kultur durch eine Kultur des Erinnerns und Gedenkens ist ein bestürzendes Symptom – wahrscheinlich für Realitätsverlust und Realitätsflucht. Wahrscheinlich gibt es hier auch eine Asymmetrie zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa.
Das Wunder des Euro. Kein Zaubertrick . Es war eigentlich ein Wunder, wie rasch und reibungslos das neue Geld eingeführt wurde und wie rasch wir uns daran gewöhnt haben, es als die bare Münze im gesamteuropäischen Raum zu verwenden. Währungen sind nationalkulturelle, fast identitätsstiftende, hochsymbolische Angelegenheiten – Mark, Franc, Lira, Drachme usf. Aber dass es fast en passant über die Bühne ging und wir uns eine Rückkehr in die alte Welt der nationalen Währungen gar nicht mehr vorstellen können – welch besseren Beweis für funktionierende Europäizität könnte es geben als die Zirkulation der neuen europäischen Währung (dies gilt auch nach der Griechenlandkrise, die ja nicht primär durch die Existenz einer gemeinsamen Währung bedingt war). Der Euro war das Schmiermittel des erfolgreichen Europäisierungsprozesses.
Roma-Beunruhigung, die Grenzen der Toleranz. Europa, das westliche vor allem, hat sich immer viel zugutegehalten auf seine demokratischen und liberalen Prinzipien. Das war einfach in Zeiten des Wohlstandes, der Stabilität, der gesicherten Abstände zwischen den vielen, die alle auf ihrem Weg zu einem Platz an der Sonne waren. Aber was geschehen würde, wenn Europa unter den Stress der Krise gerät, wenn sich die Losung »Rette sich, wer kann« durchsetzt – das war unklar. Mittlerweile gibt es Ernstfälle, an denen man messen kann, wie tolerant Europa in Wirklichkeit ist, wie es um das Aushaltenkönnen von Differenz bestellt ist. Die Roma sind wohl die immer noch fremdeste, am wenigsten sich anpassende und anpassungsfähige Völkerschaft in Europa, nicht sesshaft, alle Grenzen ignorierend und freimütig überschreitend, ihren Beruf ausübend, und dabei oft mit den Regeln der Mehrheitsgesellschaft kollidierend. Die Mauern in
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