Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
manifestieren sich in unseren Zugehörigkeits- und Loyalitätsverhältnissen. Die meisten Grenzverläufe der Welt kann man nicht sehen: Sie verlaufen auf den Meeren und trennen die allgemeinen von den Hoheitsgewässern, sie gehen durch wilde Gebirgslandschaften und Wüsten, in denen kein Grenzpfahl die Territorialität markiert. Grenzen, etwas außerordentlich Festes, Hartes und physisch Unüberwindbares, sind zugleich das Gedachte, Unsichtbare, nur in unserem Kopf und durch unsere Konventionen Existierende.
Auf die Spitze getrieben ist die Grenze als ein Phänomen der Eindeutigkeit und Klarheit in den Kartenbildern, insbesondere jener wie mit dem Rasiermesser gezogenen Linien, die die paper partitions der kolonialen Welt fixiert haben. Sie markieren Einflusssphären, stecken keine durch inneren Landesausbau gestalteten Territorien ab. In der Regel sind sie vereinbart worden, weitab vom Schuss, auf internationalen Konferenzen. Es sind Oktroys, von außen auferlegt, oft ganz abstrakt-geometrisch, manchmal auf diesen oder jenen Wasserlauf, diese oder jene Ressource Rücksicht nehmend, aber jedenfalls eine Territorialität entwerfend, die nichts zu tun hat mit der Territorialität von Stammesgesellschaften, Clans und nomadisierenden Völkerschaften. Es sind Limitierungen, die auf Delimitierungen basieren. Über die Territorialität der Stammesgesellschaften wird die Territorialität der Kolonialmächte geworfen. Über die Tribal-Kartographie legt sich die Imperial-Kartographie. Wie schon der Raster der Vereinigten Staaten den Jagdgründen der Indianerstämme übergeworfen wurde, so geschah es auch überall sonst in der Welt, wo der weiße Mann seine Herrschaft etablierte. 3 Diese Grenzen blieben unberührt, unproblematisch, »tot«, solange sich die unter sie gezwängten »Gesellschaften« nicht selbständig artikulierten. Als dies – in der Welle der antikolonialen Befreiungsbewegungen – geschah, wurde ein gänzlich anders verlaufendes Koordinatensystem von Einschluss und Ausschluss, von Zugehörigkeit und Fremdheit sichtbar und machte sich in gewaltsamen Konflikten Luft, die die auferlegten »künstlichen Grenzen« aufkündigten und gegenstandslos werden ließen: in einer unendlichen, bis heute nicht zur Ruhe gekommenen Kette von Kämpfen um die Etablierung anders verlaufender Grenzen. Dort, wo es Widerstand gab, wo man mit dem Eigensinn und der Eigenmacht von Völkern und Gesellschaften rechnen musste, waren pure paper partitions nicht möglich. Grenzregelungen hatten, wollten sie irgend Bestand haben und Sinn machen, Rücksicht zu nehmen auf »gewachsene Verhältnisse«, historische Traditionen, sprachliche und kulturelle Gemengelagen.
Das östliche Europa – Laboratorium für Grenzziehungen
Die gewaltigen und beispiellos gewalttätigen Machtverschiebungen im 20. Jahrhundert sind sekundiert und markiert von Grenzverschiebungen. Es ließe sich geradezu eine Geschichte Europas entlang seiner Grenzverschiebungen schreiben. Europa, gesehen nicht aus der Perspektive seiner Hauptstädte und Zentren, sondern von der Grenze, von der Peripherie her. Die neuerdings boomenden borderland studies und eine expandierende boundarology fänden im mittleren und östlichen Europa ein überwältigend vielfältiges und reiches Material, um den Formenreichtum, die Metamorphosen und den Funktionswandel von Grenzziehung bis in die feinsten Verästelungen durchzudeklinieren. Auch hier spielten – mehr oder weniger genaue und intelligente – paper partitions eine große Rolle. Das 20. Jahrhundert in Europa ist reich an markanten und schmerzlichen Grenzverschiebungen, und für die meisten von ihnen gibt es sogar ein präzise angebbares Copyright oder einen Urheber, der sich auf seine Autorschaft etwas einbilden darf und in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Das mittlere und östliche Europa kommt hier als klassischer Raum der »wandernden Grenzen« in den Blick, wie Joseph Roth, der mitteleuropäische Romancier der Auflösung des imperial geprägten Vorkriegseuropa, es genannt hat. Auch der Umstand, dass die Grenze in der Bezeichnung von Staaten und Regionen – Ukraina, kresy –, dass sie im Selbstbild von Nationen – »antemurale Christianitatis« – und als Epochensignatur – »Eiserner Vorhang«, »Berliner Mauer« – erscheint, ist nicht ohne Bedeutung. Chiffren für die Neuordnung Europas sind mit Grenzziehungen verbunden: »Curzon-Linie«, »Polnischer Korridor«, »Wilna-Frage«, »die Teschenfrage«,
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